Von Matthias Bosenick (05.12.2015) / Auch veröfentlicht auf Kult-Tour – Der Stadtblog
Noch so ein Braunschweiger Vielschreiber: Hardy Crueger veröffentlicht mit „Der andere Krieg“ sein mindestens drittes Buch in diesem Jahr. Mit dem vorliegenden macht er es seinem Leser nicht ganz einfach: Einerseits behandelt er Themen, die dem halbwegs gebildeten Leser längst mehr als vertraut sind, andererseits setzt er zu viel Hintergrundwissen voraus, um für Jugendliche leicht nachvollziehbar zu sein. Die Geschichte an sich entwickelt indes einen starken Sog: Crueger lässt einen vom Schicksal gepeinigten Heranwachsenden namens Victor Rosenfels in den Dreißigerjahren wie eine Art Hiob auf Odysse durch Deutschland und die USA mäandern. Trotz aller bekannter Umstände erzählt Crueger die Geschichte so komprimiert, dass man das Buch wie im Zwang verschlingt, bei jedem Umblättern gebannt denkend: Was passiert denn jetzt noch?
Dem Rezensenten fiel es zunächst schwer, sich auf das Buch einzulassen. Ja, in Deutschland war es in den Dreißigerjahren zu Zeiten der Nazidämmerung kaum nachvollziehbar furchtbar für die Menschen, die nicht mitzogen, aber eigentlich oft auch für die, die es taten, sowie ganz besonders für die dritte Gruppe, die Ziel der aufkeimenden Volksverhetzung waren. Das ist bekannt, ein weiterer Roman mit dem Setting erscheint zunächst redundant, anstrengend, unattraktiv. Doch drückt Crueger seinen Victor schnell von der ersten in die dritte Kategorie und schildert ein wahrhaftiges Schicksal aus der subjektiven Sicht eines Heranwachsenden. Dabei hangelt er sich an bekannten historischen Fakten entlang, von der beschwerlichen Flucht in die USA, den wirtschaftlichen Folgen der „Großen Depression“, den Zuständen auf Farmen, der Rassendiskriminierung und dergleichen mehr. Alles hinreichend aufgearbeitet, ja – aber hier aus einer ungewöhnlichen Perspektive erzählt und auf eine geschickte Weise verknüpft. Zudem ist es sinnvoll, die historischen Hintergründe zu kennen, um das persönliche Elend des Victor Rosenfels schneller verstehen und einordnen zu können.
Die leichte Sprache irritiert anfangs etwas, weil man sich als Erwachsener in einem Jugendbuch und somit als falsche Zielgruppe wähnt. Aber wenn dies ein Jugendbuch sein will, dann ist es ein anspruchsvolles. Crueger vermittelt Wissen und lässt seine Hauptfigur aus den im Kontext gemachten Erfahrungen humanistische Rückschlüsse ziehen. Sollten einem Leser die entsprechenden Details fehlen, muss er halt recherchieren, das ist nicht schwer, die Fakten sind überall verfügbar. Die Vorwortautorin Dr. Gabriele Haefs spricht von einem „Bildungsroman“ und hat damit sicherlich Recht.
Spannend ist er trotzdem, dieser Bildungsroman, und nicht nur erbaulich. Victor wächst mit anscheinend jüdischen Anteilen in seiner Ahnenreihe in Hamburg auf; diese Anteile sind für die Nazis ausreichend, um aus seiner Familie Volljuden zu machen und sie zu diskriminieren. Das bekommt Victor selbst von seiner besten Freundin zu spüren, die das rassistische Blabla ihrer Eltern nachplappert. Rechtzeitig verfügt Victors Vater, dass Mutter und Sohn in die USA fliehen. Der Vater will nachkommen. Derweil leben Victor und seine Mutter zunächst in New York bei einem Chinesen, bis die Mutter in Detroit einen Job bekommt. Victor bekommt vor Ort Juden- und Deutschenhass zu spüren und freundet sich mit Polen und Italienern an. Nach dem Suizid seiner Mutter kommt er zu einer geldmächtigen herrschsüchtigen Familie aufs Land und hegt dort eigene Ressentiments gegen Schwarze, die ihm ebenjene bald widerlegen. Die nächste Etappe ist die Flucht vor den Despoten und der Versuch, auf früheren US-Etappen geknüpfte Verbindungen wieder aufleben zu lassen. Armut, Hunger, Verfolgung, Schläge – Victor erfährt alles, was einem Unglücksraben angemessen ist, und landet doch immer auf den Füßen. Zurück in Europa, erwarten den inzwischen jungen Mann weitere Schläge in die Magengrube und Veränderungen seines Weltbildes. Eingebettet ist die Ich-Erzählung übrigens in eine weitere solche, der längst greise Victor berichtet nämlich einem offensichtlich schwarzen Pfleger im Altenheim aus seinem Leben.
Crueger hält sich selten lang an den einzelnen Stationen auf. Manche tiefere Erlebnisse lässt er Victor reflektierend wiederholen, ansonsten hetzt der junge Mensch nur so durch sein Leben. Gerade dies erzeugt einen starken Sog, der zwar nicht unbedingt in die Tiefe geht, aber über eine weite Distanz wirksam bleibt. Damit ist „Der andere Krieg“ ein klassischer Page-Turner (uha). So mag man das Buch zunächst nicht anfassen und kann es dann nicht aus der Hand legen.