Von Matthias Bosenick (28.08.2015) / Auch erschienen auf Kult-Tour – Der Stadtblog
Vermutlich gibt es 250.000 Wahrheiten über Braunschweig, in diesem Buch sammelt Verleger Andreas Reiffer mindestens 14: So viele Autoren lassen sich nämlich in diesem Sammelband über ihre (Wahl-)Heimat aus. Daraus ergibt sich eine Stil- und Themenvielfalt, die angemessen beachtlich ist, aber Reiffer selbst stellt in seinem Vorwort berechtigt fest, dass es ein gewagtes Unterfangen ist, „Die Wahrheit über Braunschweig“ überhaupt breitenwirksam zusammenstellen zu wollen. Das vorliegende Ergebnis ist gottlob recht vollständig, doch hätte auch das Nichterfüllen dieses Vorhabens nichts ausgemacht: Die Crème de la Crème der Braunschweiger Literatenszene reicht sich den Staffelstab hin und her, dazwischen tummeln sich eher Unbekannte und sogar ein offensichtlich Ausgedachter. Zwischen Lobhudelei und Lästerei pendeln die Beiträge, entsprechend zwischen Humor und Herzangelegenheit. Und: Nach der zweifelsfrei unterhaltsamen Lektüre fühlt man sich dazu animiert, ergänzend sein eigenes Kapitel hinzuzufügen; nicht wegen einer vermeintlichen Unvollständigkeit, sondern aus Leidenschaft. Zumindest, wenn man Braunschweiger ist.
Allein die Beteiligtenliste ist ein Kaufgrund: Axel Klingenberg, Dominik Bartels, Frank Schäfer, Gerald Fricke, Hardy Crueger, Marcel Pollex, Till Burgwächter und Wiebke Saathoff sind dem Rezensenten vertraut, dazu kommen Texte von Bianca Höltje, Jan-Heie Erchinger, Ronja Linke, Peter Schanz und Tom Wunram sowie von Kuno Schmürz, der offenbar nicht existiert, aber einen der treffendsten satirischen Artikel beiträgt.
In unterschiedlicher Auflösung betrachten die Beitragenden ihre Stadt: Die einen gehen ins Detail, die anderen wahren einen ganzheitlichen Blick; ein Text ist allgemeingültig, ein anderer persönlich. Tom Wunram betrachtet Braunschweig (auf die ganzen Synonyme wie Löwenstadt, Stadt Heinrichs des Löwen, Ostfalen-Metropole und so weiter soll hier mal verzichtet werden) aus der Sicht eines Zugezogenen, der ausgehend von den äußerlich wahrnehmbaren Parametern wie Eulenspiegel, Mettwurst und Volkswagen den liebgewinnenden Blick auf die eigene Heimatfindung richtet. Als Kontrapunkt darf Till Burgwächter seine gewohnt schnoddrig, aber stets plausibel zusammengetragene Häme auskübeln, in der Folge auch gleich über die regionale Nachbarschaft; der entsprechende Text ist nicht mehr neu, aber immer gut. Wiebke Saathoff moniert sich anekdotisch über die Mietpreise, Dominik Bartels charakterisiert die Ikea-Einkäufer; seine Liste ist sicherlich nicht allein auf Braunschweiger Kundschaften zutreffend. In einen Teenager versetzt sich Jan-Heie Erchinger hinein; im angeeigneten Jugendsprech tarnt er gekonnt eine euphorische Ortsbeschreibung als Liebeserklärung an ein Mädchen. Axel Klingenbergs Bus-und-Bahn-Anekdoten funktionieren sicherlich auch losgelöst von der Stadt. Zwei Kriminal-Beiträge steuert Hardy Crueger aus seinem Buch „Okergeschichten“ bei, in denen er obskure Zeitungsberichte wie Thriller nacherzählt. Einen konträr trockenen Artikel verfasste Bianca Höltje über den Wassersport Segeln, hier vollzogen auf dem Südsee; ihre Leidenschaft dafür dringt zwar durch, doch tun sich Nichtsegler schwerer mit dem Sujet als Nichtfußballer mit den später folgenden Eintracht-Geschichten.
Klingenbergs latent beklemmender Campingtext hat höchstens entfernt mit Braunschweig zu tun, vermutlich hielt der Autor seine stadtspezifischen Artikel für seine parallel erschienene Neuauflage von „Döner, Braunkohl und Bier – Das Braunschweig-Buch“ zurück. An diese lediglich beobachtete Sauftour schließt sich eine vollzogene von Saathoff an, die sich in einigen Szenekneipen erst breitmacht und dann sukzessive breit macht. Den unangenehmen Krieg zwischen Braunschweig und Hannover thematisiert Frank Schäfer, indem er davon berichtet, wie Fußballliteratengruppen aus den jeweiligen Städten gegeneinander antreten und sich eigentlich, anders als die Fußballfans leider, Respekt zollen. Zusammenhänge zwischen Bruce Springsteens Album „Born in the USA“ und sowohl lokalen als auch weltpolitischen Umwälzungen stellt Gerald Fricke her, wie gewohnt in dem ihm eigenen und einzigartigen Tonfall herablassender Ironie. Fäkalhumorig, aber anschaulich wird es bei Ronja Linkes Betrachtungen der Hundehaufenproblematik in Braunschweig. Ebenso lecker ist Peter Schanz‘ Bericht über die verwendeten Fleischsorten in einem chinesischen Imbiss am Kohlmarkt. Weitere Themen sind Gesamtschulen, Literaturpreise, die Fußballkreisklasse, der Stadtheilige und Städtepartnerschaften. Kurz vor Schluss erlässt sich der obskure Kuno Schmünz in einer historischen Abhandlung Braunschweigs, deren Unwahrheitswitz häufig sogar wohl nur besonders gut Informierte erkennen, der aber voller Seiten- und Frontalhiebe auf die aktuellen politischen und gesellschaftlichen Gegebenheiten steckt. Zwischen die vielen Themen des Buches streut Marcel Pollex seine vertrauten „Guten Nachrichten“, die in eine ähnliche Kerbe schlagen.
Vor der Lektüre des Buches ist man skeptisch geneigt, im Geiste eine Liste anzulegen mit den zu erwartenden Versäumnissen. Am Ende stellt man dann anerkennend fest, dass diese Liste so kurz ausfällt, dass man sie gleich ganz verwirft. An diesem Kompendium haben Braunschweiger mit etwas alternativerem Blick auf ihre Stadt großen Spaß. Neu- und Nicht-Braunschweiger sollten sich zur Lektüre solche Leute neben sich setzen, die ihnen die Details erklären. Das sind derer nicht so wenige, und auch Braunschweiger könnten vermutlich bei dem ein- oder anderen Aspekt eine Wissenslücke haben. In diesem Falle spreche man die Autoren einfach bei der nächsten Begegnung irgendwo in der Löwenstadt darauf an. Mist. Jetzt ist dieses Wort doch noch gefallen.