Von Matthias Bosenick (22.06.2015)
Eine Achterbahnfahrt, sowohl visuell als auch inhaltlich, ist Sebastian Schippers erst vierte Regiearbeit „Victoria“. Im Vordergrund der Berichterstattung über diesen Film steht nicht ohne Grund die Form: Die knapp 140 Minuten sind nämlich an einem Stück gedreht. Doch anders als in Hollywood, wo marginal von der Norm abweichende Effekte schon ausreichen, um einen Film daraus zu machen, weil der Rest dann einfach willkürlich aus dem Drehbuchbaukasten bestückt wird, kombiniert Schipper sein Experiment mit einem überzeugendem und emotional so wechselhaftem wie mitreißendem Plot, dazu überwältigend gut passenden Schauspielern sowie einer Kameraarbeit, die sich nicht darauf beschränkt, einfach nur permanent eingeschaltet zu sein. Alles zusammen lässt den Zuschauer bisweilen vergessen, mit welchen eigenwilligen Mitteln dieser Thriller gedreht ist. Damit akzeptiert man dann auch bereitwillig die nur wenigen Untiefen im Verlauf der Handlung. Respekt vor diesem Werk.
Die Story ist eigentlich schnell erzählt: Die junge Spanierin Victoria ist seit drei Monaten in Berlin und einsam. Als sie einmal gefrustet aus einem Technoclub kommt, gerät sie in die Zufallsgesellschaft von vier schnoddrigen Ur-Berlinern. Von dort an heißt es: Durch die Nacht mit Victoria und ihrer Bande. Deren Mitglieder tragen Namen wie Sonne, Boxer, Blinker und Fuß und sind deutlich spürbar schräg drauf. Nicht bedrohlich, deshalb heftet Victoria sich wohl auch an deren Fersen. Die führen sie zunächst auf ein Hochhausdach und dann wie nebenbei in die Fänge eines Verbrechers, der von Boxer eine Schuld einfordert, die vorsieht, dass der dafür eine Bank zu überfallen hat. Victoria empfiehlt sich ihrer neuen Bezugsgruppe als Fluchtfahrzeugfahrerin. Es kommt zu Schießereien mit der Polizei, einer überdrehten Flucht und zu fatalen Konsequenzen.
An manchen Enden wirkt die Geschichte etwas konstruiert. Warum lässt sich die offenbar naive Victoria auf solche Honks ein? Nun: Weil sie einsam ist. Und weil von ihrem Hauptkontakt Sonne keinerlei Gefahr für sie ausgeht. Warum steuert sie das Fluchtfahrzeug? Weil die Jungs den Überfall nur deshalb machen, um Victoria davor zu bewahren, von dem Schwerverbrecher für eine Woche als Pfand, vulgo Geisel, zurückbehalten zu werden; sie revanchiert sich also für eine Rettung. Warum lassen sich die Jungs auf den Waffengebrauch ein? Sie reagieren panisch sowie adrenalin- und drogenunterstützt über und wollen wohl schlichtweg nicht versagen.
Interessant ist dabei, wie Schipper immer wieder Finten auslegt. Man weiß ja, worauf es hinausläuft. Und zwischendurch trennt sich die Gruppe immer mal und kommt dann geschickt doch wieder zusammen. Auch füllt Schipper die Sequenzen ohne vordergründige Handlung mit Inhalt, indem er die Figuren Geschichten erzählen lässt, zumindest im ersten Kennlernteil bis zu dem Überfall, und diese Geschichten erzeugen mehr Bilder beim Betrachter, als ein Film es könnte; das hat „Victoria“ mit dem Werk Quentin Tarantinos gemein. Die Dialoge sind großartig, weil Victoria und die Jungs sich – zumeist improvisiert übrigens – in einem gebrochenen Englisch unterhalten, das trotzdem funktioniert und ganz viel transportiert. Und obwohl die Jungs einen Lebensentwurf verfolgen, dem man als Zuschauer eher abgeneigt ist, lacht man sehr viel mit ihnen. Bis die Stimmung kippt, und als dies geschieht, nimmt der Film einen trotzdem mit; man erkennt, dass die Wechsel zwar konstruiert sind, aber sie fühlen sich nicht so an, und das ist mehr als gelungen.
Man ertappt sich nun manchmal dabei, einzelne Szenen zu lang zu finden. Die Party im Club nach geglücktem Raubzug etwa sieht nett aus, bringt aber nichts. Andererseits ist die Trauersequenz Victorias in all ihrer Ausführlichkeit und besonders Distanzlosigkeit eine schauspielerische Großleistung, die dem Betrachter diverse Klöße in den Hals rollt. Und dann fällt einem wieder ein, dass man es ja gar nicht mit einem herkömmlichen Film zu tun hat, sondern mit einem One-Shot-Experiment.
Womöglich liegt es also an der technischen Choreographie, an purer Logistik somit, dass die zweite Clubszene länger ist: Vermutlich muss das zweite Produktionsteam draußen den Fortgang der Handlung vorbereiten, das braucht eben seinen Moment. Und dann fällt einem auf, dass einem genau das nicht auffällt: dass es ein Film ist, der daraus besteht, dass eine Kamera ununterbrochen eine Gruppe von Menschen begleitet. Die Kamera wirkt körperlos, sitzt mit im Auto, auf dem Dach, im Fahrstuhl, am Piano, neben dem Fahrrad. Nicht in der Bank jedoch, denn bis auf einen winzigen Augenblick bleibt die Kamera immer in der Nähe von Victoria, auch wenn die nicht immer im Bild ist. Die größte Leistung des norwegischen Kameramanns Sturla Brandth Grøvlen ist jedoch, dass er einen ungeschnittenen Film wirken lässt, als sei er ganz normal geschnitten. Alle Kameraeinstellungen, Perspektiven und Schwenks, die man aus dem herkömmlichen Kino kennt, kommen auch in „Victoria“ vor. Dabei erzeugt die Handkamera keine Unruhe, sondern passt sich dem inhaltlichen Tempo an und transportiert die jeweilige Stimmung. In zwei Situationen erlaubt es sich Schipper zudem, die Dialoge mit Musik zu überlagern und stumm zu schalten; auch das erzeugt den Eindruck eines Schnitts, eines Übergangs zumindest. Innerhalb dieses kniffligen Tanzes bringt das Filmteam dann auch die Spezialeffekte unter: Als einer der Jungs angeschossen wird, duckt sich die Kamera hinter eine Mauer. Beim nächsten Blick darüber sieht man den Mann plötzlich bluten; das erzeugt eine unfassbare Authentizität.
Der Film reißt einen mit, schlichtweg. Aus dem Club auf das Dach, dann in ein Café an den Rand einer Lebenslüge, dann zu einem schlichten Gefallen, den Victoria den Jungs tun will, bis in die Nähe zu Gewalt und Tod. Ein Wahnsinnsritt, den alle filmischen Komponenten mittragen und fördern. Zu den guten Qualitäten gehört übrigens auch, dass es kein hedonistischer Pro-Berlin-Party-Film ist, sondern die Unbedarftheit der Titelgeberin ins größtmögliche Unglück führt. Wer sich auf Idioten einlässt, muss damit rechnen, dass es in die Scheiße führt. Kleines Lehrstück.
Schwach sind einzig die Rechtschreib- und Grammatikfehler in den Untertiteln und im Abspann. Und dabei handelt es sich nicht um Flüchtigkeitsvertipper. Das grassiert, dass sich niemand mehr Mühe macht, in solchen Dingen Profis ans Werk zu lassen. Der Rest ist fraglos pure Profiarbeit.