Von Matthias Bosenick (16.05.2015) / Auch auf Kult-Tour – Der Stadtblog
Die Diskussion darum, ob die Lebensqualität auf dem Land oder in der Stadt höher ist, ist vermutlich so alt wie menschliche Wohnbebauung, aber die beiden befreundeten Autoren Holger Reichard und Karsten Weyershausen widmen ihr dennoch genau jetzt ein ganzes Buch. Hätte schiefgehen können, tut es aber ganz und gar nicht: Jeder von beiden bevorzugt einen von beiden Standorten, und was ihre anekdotische und analytische Betrachtung so verschlingbar macht, ist die Differenziertheit. Jeder von beiden sieht Vor- und Nachteile in beiden Varianten. Keine Sichtweise wird verherrlicht, die andere nicht rettungslos bloßgestellt. Positiv dazu kommt, dass die beiden Autoren einen auf den ersten Blick vielleicht betulichen, in Wahrheit aber seriösen, kompakten und treffenden Schreibstil haben, angenehm frei von Allüre, Attitüde und Schenkelklopferhumor. Dieses Buch macht Spaß.
Beide Autoren haben ihre klare Grundhaltung: Weyershausen ist Städter, Reichard Landei. Davon rücken sie auch nicht ab. Obschon sie zuvorderst die Vorzüge ihrer Lebensweise anführen, finden sie gleichermaßen Vorzüge auch am Leben des Anderen und sogar Nachteile am eigenen. Diese reflektierte Betrachtung macht das Buch so wertvoll. Am Ende hat man den Eindruck, wirklich alle Belange einmal komplett ausgeleuchtet und abgeklopft bekommen zu haben, mit Luft, Einsamkeit, Distanzlosigkeit, Toleranz, den unterschiedlichen Optionen und vielem mehr, und alles auch aus unterschiedlichen Altersperspektiven betrachtet. Natürlich zwangsweise aus rein männlicher Sicht; für die weibliche Betrachtung müsste ein eigenes Buch her.
Reichard und Weyershausen greifen für ihre nicht einmal vordergründig als solche erkennbare Argumentation auf selbsterlebte Anekdoten zurück. Beide kennen beides, also Stadt- und Landleben, und berichten aus beidem, mit allen Einwohnerzahl-Abstufungen, von der Einsiedelei über Dörfer, Kleinstädte und Vorstädte bis zu Millionenmetropolen. Ihr persönliches Erleben konzentriert sich dabei auf ihre Heimat: Braunschweig und Umgebung. Interessant ist, dass die beiden damit dennoch Allgemeingültiges zu Papier bringen.
Der Sprachstil der beiden Freunde ähnelt sich erstaunlicherweise. Sie schaffen erzählerisch Entspannung, sie hetzen nicht durch ihre Geschichten, und sie schlagen einen angemessenen Tonfall an, einen erwachsenen, besonnenen. Ihr Humor ist subtil, aber nachdrücklich. Sie machen keine Comedy und wollen auch keinen Poetry Slam gewinnen. „Harmlos“ wäre hier dennoch das falsche Attribut, sie wenden nur ein eigenes Wertesystem für die Qualität der erlebten Ereignisse an und wissen die gelegentlichen Exzesse unprätentiös und zurückhaltend zu schildern. Und sie fallen nicht ins Lästern, jedenfalls nicht als Hauptattraktion. Hier ist vielmehr das Wort „Seitenhieb“ angebracht. Ein lauthalses Loslachen des Lesers hat hier eine ganz andere Qualität und findet definitiv immer wieder statt.
Die Geschichten pendeln zwischen Aha-Effekt und Nostalgie, zwischen Euphorie und Melancholie. Auch dieser Abwechslungsreichtum trägt zum Lesevergnügen bei. So manche Geschichte bleibt nachhaltig hängen, etwa die mit dem Fußballspiel im Schnee und ohne Tore. Sie sind nach Monaten und Jahreszeiten sortiert und durchsetzt von längeren analytischen Essays über Grundthemen der jeweiligen Lebensweise.
Die beiden Autoren schildern ihre Begebenheiten übrigens nicht als Kooperationsteam, sondern jeder für sich, gekennzeichnet – abgesehen vom Kürzel – durch kleine Icons, gestaltet vom Comiczeichner Weyershausen, dem auch der Buchumschlag zu verdanken ist. Das vereinfacht die Orientierung. „Stadt. Land. Flucht.“ ist übrigens die zweite Gemeinschaftsarbeit der beiden nach „Kerle im Klimakterium“. Mit dem Album „Stadt, Land, Flucht“ der Band Jimmy Kafka hat es indes nichts zu tun. Und der Titel erinnert zudem an eine andere Kooperation zweier norddeutscher Autoren: „Stadt – Land – Mord“ von Susanne Fischer und Fanny Müller, die 1998 in Briefform einen Kriminalfall schilderten.
Am Ende bedauert man, dass man selbiges erreicht hat, das Buch könnte gerne auch länger dauern. Die Frage, welches Leben man für sich als das ideale empfindet, beantwortet dieses Buch natürlich nicht – aber es gibt massenhaft Denkanstöße. Wer nun nicht vor einer solchen Entscheidung steht, sei es aus Unvermögen oder weil die Entscheidung bereits feststeht, hat deshalb nicht weniger Freude an der Lektüre.