Von Matthias Bosenick (29.01.2015)
Na gut, nach drei tollen Filmen darf man Bent Hamer auch mal eine Niete zugestehen. „1001 Gramm“ ist leider eine. Leider dann auch eine nahezu vollkommene. Wenn es die Absicht war, die Ödnis des Eichamtsjobs filmisch umzusetzen, ist dies auf eine Weise gelungen, in der sich der Zuschauer langweilt, anstatt sich der gelangweilten Figuren mitfühlend anzunehmen. Man wartet bis zum Schluss, dass es endlich mit der Handlung losgeht. Sobald dies der Fall zu sein scheint, kommt der Abspann. Und die Moral von der Geschicht? Bestenfalls: Fang endlich an zu leben. Der Kinogänger beherzigt dies wohl am besten, indem er diesen Film meidet.
Das Hauptanliegen Hamers scheint zu sein, dem Zuschauer plausibel zu machen, dass Hauptdarstellerin Ane Dahl Torp als Marie Ernst in allen Lebenslagen eine gute Figur hat. Macht, Entschuldigung. Beides eigentlich. Sei es in Eichamtsuniform, Schlabberpulli, Gärtnerkluft oder splitternackt in der Badewanne beim Sex. Ja, auch das, genau, muss es zuletzt sein, damit der Zuschauer wenigstens etwas von dem Film in Erinnerung behält (und sei es nur der völlig deplatzierte Witz über Penislängen). So generiert Hamer lauter Situationen, in denen Dahl Torp ihr norwegisch-blondes Haar offen, hochgesteckt, zusammengebunden oder vom Winde verweht in die Kulissen halten darf. Ja, sie ist hübsch, aber so makellos, dass es glatt wird und man an ihr vorbei guckt; das reicht also nicht für ein abendfüllendes Kinovergnügen. Da muss mehr sein.
Ist es aber nicht. Dahl Torp spielt Marie, die Tochter des Typen, der im Eichamt für den norwegischen Kilogramm-Prototypen verantwortlich ist. Stoisch stakst sie durch ihr geeichtes Leben, das Raucherpausen mit ihrem Vater beinhaltet, Abwarten in ihrem Elektro-Auto, dass ihr Ex endlich seine Luxusmöbel aus der gemeinsamen Luxusreihenhauswohnung holt, und gelangweilt Wein trinkend in der leeren Luxuswohnung herumsitzen. Ihr Vater stirbt irgendwann, und laut ihrer Aussage gerät ihre Welt dadurch aus den Fugen, was man aber abseits dieser Aussage nicht wahrnimmt, weil sie so stoisch bleibt wie eh und je. Nun muss sie nun statt seiner zur internationalen Kilogrammkonferenz nach Paris. Dröge hin, dröge her, und wieder hin, und wieder her, zwischen Paris und Oslo. Dabei läuft ihr in der vermeintlichen Stadt der Liebe ein Typ namens Pi über den Weg, der ihr zuletzt dabei hilft, den verunfallten norwegischen Kilogramm-Prototypen heimlich zu restaurieren. Allmählich wacht sie auf, der Zuschauer auch, doch da ist es zu spät. Der Abspann kommt.
Es gelingt Hamer nicht, die reduzierte Einsamkeit der Hauptfigur filmisch zu transportieren. Denn die Kamera ist stets so dicht an den Figuren dran und verfolgt sie mit permanenten Schwenks, dass man keine Distanz zu der Ödnis bekommt. Stattdessen suggeriert Hamer, dass es etwas Inhaltsvolles zu Verfolgen gibt, was aber nicht stimmt. Man ist so dicht dran an der Leere, dass sie enttäuscht. Zum Mitfühlen lädt diese Nähe auch nicht ein. Passender (und skandinavischer) wäre es gewesen, mehr mit Totalen und statischen Kameras zu arbeiten.
Sobald Hamer dies tut, sind indes die Bilder zudem nicht wirklich schön. Bis auf wenige Ausnahmen. Bisweilen ist die Szenerie schlecht ausgeleuchtet, weshalb beabsichtigte Effekte verpuffen. So gehen etwa einmal sämtliche Kilogrammabgeordneten mit einem blauen Regenschirm und ihrem stoßfest verpackten Nationalkilogramm eine Baumreihe entlang. Das hätte schön sein können, wären sie nicht alle schon im ersten Bilddrittel im Schatten verschwunden.
Die Delegierten sollen irgendwie nerdig aussehen. Ja, tun sie. Offenbar soll man über diese geeichten Leben lachen können. Das wiederum kann man nicht. Dafür kommen die vermeintlich komödiantischen Szenen zu uninspiriert und beiläufig zwischen die inhaltslosen Sequenzen geschnitten. Man sieht, dass sie konstruiert sind, und fühlt sich zum Lachen manipuliert. In diesem Rahmen gibt es indes einmal einen gesellschaftskritischen Dialog zwischen den Delegierten – der gut ist, aber wie ein Fremdkörper wirkt, weil diese Art von Inhalt nicht Bestandteil des Films ist.
Als wäre es nicht schon schlimm genug, verliert sich Hamer an einer Stelle sogar noch in Kitsch: Die Seele wiegt 21 Gramm, weiß der Kinogänger nach dem gleichnamigen Film von Alejandro González Iñárritu und sagt der sterbende Vater im Film. Es interessiere ihn, wie viel er als Asche wöge, sagt er Marie. Die ermittelt dies heimlich nachts im leeren Institut: Sie kippt seine Asche in eine Schale. Die Waage zeigt zunächst 1022 Gramm an, dann sinkt das Gewicht auf 1001. Sie blickt verklärt der vermeintlich entfleuchenden Seele ihres Vaters nach. Als entfleuche die nicht zum Zeitpunkt des Todes, sondern des Wiegevorgangs. Schlimm! Danach sitzt die Frau rauchend zwischen den Institutsgebäuden, man kann über ihr Sterne sehen. Und zwar unter anderem den Jakobsstab, den Gürtel des Orion – der aber in Nordeuropa erst im Winter zu sehen ist, wohingegen der Film augenscheinlich im Sommer spielt.
Immerhin: Der Film erzählt nicht alles aus, sondern setzt Schnitte an Stellen, die der Zuschauer selbst mit Inhalt füllen muss. Leider sind die Sequenzen dazwischen ebenso überflüssig wie das, was Hamer zu Recht weglässt. Und immerhin ist John Kaada wieder für den Score verantwortlich, jedoch reduziert er, für die bessere Vermarktbarkeit vermutlich, seinen ansonsten verqueren Jazz zu banalen Hintergrundmelodien. Auch er hat schon Eindrucksvolleres geschaffen.
„Kitchen Stories“, „O’Horten“ und „Home For Christmas“ waren schöne Filme, die man gerne sah und ebenso gerne in Erinnerung behält. „1001 Gramm“ reiht sich dort leider nicht ein. Hoffentlich fängt sich Hamer wieder und kommt zu seiner eigenen Filmsprache zurück, ohne Blick auf Quoten.