Wilco – Cruel Country – dBpm Records 2022

Von Guido Dörheide (02.09.2022)

Wo soll ich anfangen, wenn es um das neue Monumental-Doppel-CD-Epos „Cruel Country“ von Wilco geht? Schwierige Aufgabe angesichts der Geschichte und des Oeuvres dieser wunderbaren Band aus Chicago, Illinois, aber wie immer ist es gut, wenn man Unterstützer und gute Kumpels hat, die einem in Zeiten der Not und der Verwirrung zur Seite stehen. An meiner Seite steht mein Nähkästchen, und anstelle einer guten Einleitung zu „Cruel Country“ lasse ich dieses einfach mal quasi aus sich selbst heraus plaudern:

Am Anfang, also von 1989 bis 1993, war Uncle Tupelo aus Belleville, Illinois – eine Band, mit der Jeff Tweedy, Jay Farrar und Mike Heidorn das Genre des Alternative Country quasi begründeten und deren Alben immer noch die Herzen der Country-, Alternative-Rock-, Alternative-Country-Fans und des Rezensenten höher schlagen lassen. Als sich die Wege der Band trennten, gründete Jay Farrar die Band Son Volt und Jeff Tweedy die hier besprochenen Wilco. Der Begriff „wilco“ wird im Flugfunkverkehr verwendet und bedeutet „I will comply“ – also sinngemäß „ich habe verstanden, was Sie meinen, und werde tun, was Sie sagen“ und wurde von Jeff Tweedy als hinreichend ironischer Name für eine Rockkapelle befunden. Nach drei wunderbaren Alben sowie den beiden gemeinsam mit Billy Bragg eingespielten „Mermaid Avenue“ und „Mermaid Avenue II“, die unveröffentlichte Songs von Woodie Guthrie enthielten, die aufzunehmen Bragg von Guthries Witwe autorisiert worden war, was er dann mit Unterstützung von Wilco auch tat, veröffentlichten Wilco im Jahr 2001 mit „Yankee Hotel Foxtrot“ (ob hier ebenfalls wieder die Luftfahrt in Gestalt des Flughafens Hearst in Ontario als Namensgeber hergehalten hat, konnte ich auch mit Hilfe von Dr. Google nicht herausbekommen) ein absolutes Jahrhundertmeisterwerk, das weniger für Alternative Country, sondern eher für reinen Alternative Rock steht und an dem man sich auch nach der 200. Wiederholung nicht überhören kann. Seitdem veröffentlichen Wilco im Zwei-, Drei- oder ganz selten im Vier-Jahres-Rhythmus neue Alben, die – obwohl „YHF“ kaum zu toppen ist – niemals enttäuscht haben. Allen Alben ist gemein, dass sie sowohl die Country-/Folk-/Americana- als auch die Freunde des alternativen Rocks bedient haben. Das letzte Album vor dem Aktuellen – „Ode To Joy“ – machte da keine Ausnahme, geriet aber eher zu einer Ode an die Freude an vorwiegend düsteren und melancholischen Songs als die vorherigen Alben.

So – nun wird das weiter munter vor sich hinplappernde Kästchen aber wieder zurück an seinen Platz unter meiner reparaturbe- und notdürftig blutrot angepinselten Küchenwand geschoben und ich wende mich Wilcos aktuellem Album zu:

Während sowohl bei Uncle Tupelo als auch auf Wilcos erwähnten früheren Großtaten nicht nur der Country-, Folk- und Americana-Musik, sondern auch dem Alternative Rock ausreichend Raum gewährt wurde, findet „Cruel Country“ ausschließlich auf dem Terrain der drei erstgenannten Musikrichtungen statt und fällt ausgesprochen ruhig und wenig rockig aus. Stimmungsmäßig setzt es die Melancholie und Düsternis des Vorgängers fort, nur mit anderen musikalischen Mitteln.

Mit „I Am My Mother“ beginnt es ruhig im langsamen Walzertakt nebst Steelguitar und Jeff Tweedys getragenem, leicht wehklagenden Gesang. Anschließend folgt mit dem Titelstück ein früher Höhepunkt des Albums, zu dem auch Neil Youngs Stimme vortrefflich gepasst hätte. Tweedy macht seinen Job aber auch unglaublich gut und arbeitet sich am Amerika der Neuzeit ab, wenn er singt: „I love my country like a little boy. Red, white, and blue. I love my country stupid and cruel. Red, white, and blue.“ Das klingt schön, und das klingt traurig. Schön traurig kann Tweedy richtig gut. Und die auf den das Stück eröffnenden Refrain folgende erste Strophe geht richtig unter die Haut: „All you have to do is sing in the choir, kill yourself every once in a while and sing in the choir with me.“

„Hints“ beschäftigt sich mit der ferneren Vergangenheit des Landes der Freien, Heimat der Mutigen: „There is no middle when the other side would rather kill than compromise.“ Überhaupt lädt Tweedys Lyrik bei jedem Song zum Entdecken schaurig schöner Bilder ein: In „Ambulance“ schließt er, während er fleißig mit dem Sterben beschäftigt ist, innige Freundschaft mit der seine Hand haltenden Notärztin – so meine Schnellinterpretation, ob die Dame die Freundschaft erwiderte, ist nicht überliefert. Den Wortbeitrag einer nicht näher vorgestellten Frau namens Patty aus „Tonight‘s The Day“ muss ich mir unbedingt für den nächsten Restaurantbesuch merken: „Patty whispered across the table ‚I think we’re being watched. You said we were invisible. Tell the waiter the sun’s in my soup. And sooner or later my face will be, too.‘“ Und – das ist doch auch irgendwie das Tolle am Country – klingt die Musik dazu zwar melancholisch, aber dennoch leicht und beschwingt. Zeilen wie „When my heart began to bleed was death and death indeed“ („Bird Without A Tail / Base Of My Skull“) lassen sich mit solch wunderschöner Musik gut verkraften. Auf „Tired Of Taking It Out On You“ geht Tweedy streng mit sich selbst ins Gericht, wenn es darum geht, wie er Leute behandelt, wenn er sich nicht gut fühlt. Oha – der Typ ist selbstreflektiert, denke ich. Und keine Angst, ich handele hier jetzt nicht jeden Text einzeln ab – mein Ratschlag lautet aber auf jeden Fall: „Nimm Dir beim Hören das Textbuch vor“. Einzig die Eröffnungssequenz von „Story To Tell“ will ich Ihnen, liebe Lesende, noch um die Ohren schlagen: „I’ve been through hell on my way to hell“, das haut rein. Anschließend hat sich der allwissende, aber m.E. nicht allzu schlaue Ich-Erzähler noch den Arm abgeschnitten und dann so falsch wieder angenäht, dass er sich nicht bücken muss, um auf der Suche nach einer guten Geschichte zum Erzählen in die unterste Schublade zu greifen. Na, sind das herrliche Bilder? Suchte ich dafür einen Video-Regisseur, meine Wahl fiele auf Peter Jackson.

Die 21 Stücke auf dem knapp 80minütigen Album fügen sich perfekt aneinander, weilen zu keinem Zeitpunkt lang, enthalten keine Überflüssigkeiten und machen „Cruel Country“ zu einem wundervollen kleinen Meisterwerk. Am Ende noch ein ungefragter Ratschlag des Schreibenden – werten Sie ihn sozusagen als Serviervorschlag für „Cruel Country“: Ich bereiste jüngst mit dem Fahrzeug die staubige Postkutschenstraße, die von der gesichtslosen Kreisstadt bei Neudorf-Platendorf, in der ich einen Besuch zu erledigen hatte, quer durch die Pampa von Norden aus in die von mir bewohnte Metropole hineinführt, und spielte auf dem Schallplattenabspielgerät die Schallplatte von Wilco ab; der Mond stand als goldene Sichel über der Prärie und sah dabei sehr souverän aus. Das, verehrte Lesende, ist ein nahezu perfektes Ambiente für „Cruel Country“.