Spezial: addicted/Noname Label aus Moskau, Teil 5

Von Matthias Bosenick (25.06.2020)

Ein weiterer Nachschlag aus dem formidablen Programm des Moskauer Labels addicted oder auch Noname: Psychedelische Rockmusik steht im Mittelpunkt, aber alle drei Vertreter treten von dort aus eine Reise in andere Dimensionen an. Ciolkowska driften auf unverzerrten Schwingen in den Kosmos, Juice Oh Yeah verzichten dafür sogar weitgehend auf Gitarren und Pressor geben ihnen dafür umso mehr Gewicht.

Ciolkowska (Циолковская) – Психоделия (Psychodelia)

Hier ist der Titel des wohl nach Eigenzählung achten Albums der St. Petersburger Band Ciolkowska Programm: „Psychodelia“ ist die bestimmende Musikrichtung, wie gewohnt spacig, angenehm verspielt und dabei absolut ernsthaft, sogar latent melancholisch. Die Songs folgen nicht den typischen Songstrukturen, das Experiment hat jederzeit Platz, Raum eigentlich, also eher drei- als zweidimensional. Die Band spielt sich mit Hall ins All, die Gitarre erfährt keine Verzerrung im rockigen Sinne, sondern vornehmlich Echoeffekte und Delays, und die Ukulele erklingt nicht im klassischen Ukulelesound; wie sie das nur hinbekommen haben. Der auf Russisch gehaltene Gesang wirkt beiläufig, verschlafen, und passt damit gut in die entspannte Musik. Gemächlichkeit dominiert, und was will man auch mit Eile im Kosmos, der ist ja unendlich, man hat ja Zeit.

Ihren psychedelischen progressiven Artrock reichern Ciolkowska mit unerwarteten Anteilen an, so klingt die Echogitarre bisweilen wie bei frühen Waverockbands, die gelegentlich eingesetzte Orgel wiederum kein Stück nach Deep Purple oder The Doors, nicht mal nach The Stranglers, sondern beinahe sakral, und mancher Song wirkt in seinem Fundament wie Radiorockpop aus den Achtzigern, nur weit experimenteller dekoriert. Eine konkrete Anlehnung an vertraute Bands oder eindeutige Genres lässt das Quartett also nicht zu, andernfalls büßte sie deutlich an Relevanz ein. Nicht mal sich selbst kopieren sie: „Психоделия“ ist weniger wuchtig als mancher Vorgänger und konzentriert sich mehr auf Filigranität.

Zwei der Songs auf diesem gut halbstündigen Album sind übrigens Covers, von den Bands Imandra und Silence; kurioserweise stellen Letztere das Original zum Titelstück. In Unkenntnis der Originale lassen sie sich indes als Fremdkompositionen nicht ausmachen. Das Album ist die positive Weiterentwicklung eines positiven Beginns.

Juice Oh Yeah – Juice Oh Yeah

Ebenfalls aus St. Petersburg und ebenfalls in den Kosmos begeben sich Juice Oh Yeah auf ihrem zweiten, aber erstmals selbstbetitelten Album. Alles andere aber ist anders: Die Sounds dichter, mehr Fuzz, Trompeten, Synthies und Orgeln, Chorgesänge, Stoner, Doom, Progrock, orientalische Folklore, und auch der Bottleneck und der latent sakrale Gesang sind wieder dabei. Wenn man dann berücksichtigt, dass die Band lediglich aus Boris Shulman und Sviatoslav Lobanov besteht, einem Bassisten und einem Schlagzeuger, kann man nur staunen, was dieses Duo alles auf die Beine stellt. Wie schon beim Debüt „Sila Vselennoy“ vor sieben Jahren lassen es die beiden an nichts vermissen, im Gegenteil, auch in stillen Passagen kommt nie der Eindruck auf, die Musik sei leer. Das mag an der Hilfe von Danila Danilov, Petr Muzliaev und Alexey Uvarov liegen, aber auch am kompositorischen Vermögen der beiden Musiker.

Es erstaunt, wie felsenfest die Musik klingt, selbst wenn sie sich aus dunklen Ambientpassagen herausbildet. Juice Oh Yeah brauchen kein Tempo, um kraftvoll zu sein, keine Popstrukturen für Eingängigkeit, keine plakativen Gitarren für Heaviness und auch kein selbstverliebtes Gegniedel für Avantgarde, selbst wenn die beiden mal einzelne instrumentale Passagen ausdehnen. Und was sie auch nicht zulassen, ist eine eindeutige Schubladenzuordnung. Dafür haben sie viel zu viele Ideen, einen viel zu weiten Horizont und eine zu große Spielfreude. Das Album steckt voller Überraschungen und ist dabei auch noch deutlich besser produziert als das Debüt, der Sound ist glasklar. Gern darf es bis zum dritten Streich etwas weniger lang dauern.

Pressor – Twist The Bliss

„Twist“ und „The Bliss“ sind die Titel der beiden Stücke der „Twist The Bliss“-EP von Pressor, die einmal mehr ihre Idee von Stoner und Doom auswalzen. Mit dem schleppenden Gesang über der schleppenden Musik greifen sie ein Element der Melvins auf, ansonsten klingen die vier aus der Stadt Kostroma sogar noch bekiffter als die Helden aus Seattle. Einfache Riffs rotieren und haken sich im weit geöffneten Bewusstsein fest. Hohe Töne kennt das Quartett kaum, wie es sich für wüste Wüstenmusik gehört, dafür aber Energie, Druck, Gewicht, Dringlichkeit. Und sie haben Synthies, was in der Richtung eher selten ist und hier keinesfalls stört. Auch hier dringen psychedelische Anteile ein, das All ist nah, aber die Musik zu schwer, um wirklich dorthin zu gelangen. Man wundert sich, dass Musiker, die derartig umnebelte Musik spielen, diese bei zwei Tracks nicht noch weit länger als nur knappe 12 Minuten lang ausdehnen – Pressor kommen also trotz allem auf den Punkt. Bemerkenswert.

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