Santiano – Live open air in Goslar vor der Kaiserpfalz, 23. Juni 2022

Von Guido Dörheide (27.06.2022)

Eigentlich sollte Iron Maiden in FFM gegen Ende Juli mein erstes Konzerterlebnis nach dem Lockdown werden. Aber da hatte ich die Rechnung ohne die zauberhafteste aller denkbaren Konzertbegleiterinnen gemacht, die mir am letzten Donnerstag zwei Karten für Santiano am selben Tag vor der Kaiserpfalz zu Goslar unter die Nase hielt und fragte, ob ich da mit ihr hingehen würde. Ich war zugegebenermaßen baff, da maximal unvertraut mit dem Oeuvre von Santiano, aber dass das eine wunderbare Live-Band sein sollte, hatte ich schon mal gehört, und so stammelte ich, dass ich in es ihrer Begleitung natürlich auch über alle Maßen genießen würde, die Bottroper Fußgängerzone mit einer Zahnbürste vom Staube zu befreien und ansonsten für jede neue Erfahrung offen sei. Und mich total auf das Open-Air-Konzert vor der Kaiserpfalz freue.

Randvoll angefüllt mit dieser Vorfreude geleitete uns das kleine rote Auto gen Harz, eine sympathische Goslarerin schaffte es, uns davon abzuhalten, ein sicheres Falsch-Parken-Ticket abzuräumen, und empfahl uns eine Straße voller umsonstener Parkplätze. Von dort war es nur – wie der Herausgeber dieser Seiten es formulieren würde – ein Katzenwurf bis zur Kaiserpfalz. Die dortige Organisation lief wie am Schnürchen – binnen Minuten waren wir durch die Kontrolle hindurch und hatten einen schönen Platz mit guter Aussicht auf die Bühne ergattern können. Schnell noch ein Wasser – mehr dazu später, Maske wieder hoch, fest aneinander festhalten und da ertönt auch schon sehr laut das Schiffshorn als Startschuss zu der Darbietung, die nun auf das Publikum wartete.

Den Auftakt des Konzerts bilden zwei Songs des aktuellen, während des Lockdowns entstandenen und deshalb bis heute hier in Goslar nicht betourten Albums „Wenn die Kälte kommt“: Zunächst das Titelstück, das mit ordentlich Stakkato-Gedonner beginnt und die besungene Kälte überzeugend auf das Publikum überspringen lässt, aber dank der schönen Melodie dennoch ein wenig Wärme verbreitet, und gleich danach „Was Du liebst“. Und mit diesem Stück haben Santiano – die ich wie gesagt bis hierhin gar nicht kannte – mich dann gleich gekriegt: Das, was (oder aus Sicht des männlichen Ich-Erzähers „die“) Du liebst, musst Du ziehen lassen. Wenn es wahre Liebe ist, kommt sie zurück. Das hat mich sehr berührt: Liebe und Freiheit gehören zusammen, irgendwelches Klammern oder Kontrollierenwollen hat in diesem Denken nichts zu suchen. Zum ersten Mal in diesem Konzert – also gleich beim zweiten Stück – standen mir die Tränen in den Augen.

Freiheit ist ohnehin ein großes Thema bei Santiano – oft geht es um zwischenmenschliche Beziehungen oder auch um die Beziehung zwischen Band und Fans – und meistens drücken Santiano diese Gefühle durch Seemannsthemen aus – so dass niemals verklärende falsche Seemannsromantik sich Bahn bricht, sondern immer deutlich wird, worum es der Band eigentlich geht – Freiheit, Liebe, große Gefühle ohne Kontrolle und Bevormundung.

Dazu kommt – da vorne auf der Bühne steht eine Band, die einfach Bock hat, „Mucke zu machen“ und den damit verbundenen Funken auf das Publikum überspringen zu lassen. Da stehen keine Typen, die dem Publikum eine Seemannsromantik vorgaukeln wollen, um damit ihr Brot zu verdienen, sondern da steht ein wahrlich großer Haufen (sieben an der Zahl: Axel Stosberg: Gesang/Percussion, Hans-Timm Hinrichsen: Rhythmusgitarre/Gesang, Björn Both: Bass/Gesang, Marco Moeller: Drums, Arne Wiegand: Keyboards/Schifferklavier, Peter David Sage: Geige/Gesang, Andreas Fahnert: Leadgitarre) begeisterter Musiker auf der Bühne, die es zu jeder verdammten Sekunde des Konzertes einfach wissen wollen. Das wird auch dadurch deutlich, dass Spezialeffekte wahrhaft dünn gesät sind: Bei gerade mal zwei Stücken schießen vor den Musikern Flammen in die Höhe und beim letzten Stück rieselt ein Funkenregen von oben über die Bühne. Und einmal wird eine Vielzahl an güldenen Luftschlangen ins Publikum geschossen, die dann von den Fans dankbar mit nach Hause getragen werden dürfen. Ansonsten gibt es nur Rock‘n‘Roll, dargeboten von einer gut eingespielten Band, die ihre Spielfreude deutlich zur Schau trägt, und dazwischen immer wieder die wahrhaft gelungenen Moderationen des Bassisten und Sängers Björn Both: „Und wenn ich Euch hier den Weltuntergang predige, dann wisst Ihr – er tritt auch ein!“ – „Und es besteht jederzeit die Gefahr, dass man ohne Arme und Beine zurückkommt!“ – Und vor der ersten Zugabe: „Ihr wisst ja selber, dass wir es hier nicht mit nur einem Messer im Rücken wieder hinaus schaffen!“ Einiges davon hat man bereits auf den letzten Santiano-Live-Alben gehört, aber Both bringt diese Bonmots immer so, als hörte man sie zum ersten Mal, und holt das Publikum damit genau dort ab, wo es steht. Und das macht dieses Konzert aus: Vorne steht eine verdammt gute Band, die sich freut, nach zwei Jahren des Lockdowns mit dem Publikum eine Party feiern zu können, und vor der Bühne steht ein Publikum aus Kindern, Jugendlichen, Erwachsenen jeden Alters und Senioren, die genau darauf total wild sind. Und der Schreiber dieser Zeilen, der von alldem begeistert ist und die Ausnahmekonzertbegleiterin begeistert und innig an sich drückt.

Und Santiano bieten alles auf, was sie gut können und was das Publikum hören will (auch ohne Ahnung vom Werk dieser Band wird mir schnell klar, wenn ich es mit einem Klassiker zu tun bekomme): Wasser, Wasser, Wasser überall (und wir haben nichts zu trinken – diese Hommage an Samuel Taylor Coleridge ist mir als alter Iron-Maiden-Fan wahrlich ein innerer Weltspartag), „All You Zombies“ von den Hooters mit echt mal besserem deutschen Text, „Liekedeeler“ – die Geschichte von Klaus Störtebeker (jedem Fan der Hamburger Punk-Band Slime gut bekannt, auch bei Santiano geht sie nicht gut aus), in jeder Ansage wird das Publikum geworshipped und gefeiert, dazu haufenweise Schifferklavier, Geige und Gitarre in jeglicher Darbietungsform (Strat, Les Paul, Akustik) – die brennen da auf der Bühne ein Feuerwerk ab, als gäbe es kein Morgen. Vor dem Hintergrund der vielen Lieder über die Freiheit nimmt es nicht wunder, dass Both auch den Krieg in der Ukraine erwähnt, und auch hier findet er eindrucksvolle, nachdenkliche und vollkommen unpeinliche Worte. Und als Bonsche on Top obendrauf gifft Gitarrist Timm noch een op Platt bohmt ropp un de Band speelt en Leed dortau -tau schöön!

Voller guter Gefühle angesichts dieses mitreißenden Konzerts reihen wir beide uns in die Schlange der aus Goslar hinausstrebenden Autos ein, reden noch lange über das, was uns eben dargeboten wurde, freuen uns darüber, jetzt eine Band zu haben, die wir gemeinsam feiern können, und fahren der Sonne entgegen (bzw. dem goldenen Schein am Horizont, der davon um 23 Uhr noch übrig ist) – in die Unendlichkeit.