Real – Rückzug – Nagelwork 2023

Von Matthias Bosenick (02.01.2024)

Nicht alles, was elektronisch ist, muss Techno oder EBM sein, nicht alles, was Sprechgesang ist, muss Rap sein, und nicht alles, was hart ist, muss schnell sein: Auf „Rückzug“, dem zweiten Album von Jens Nagels neuem Projekt mit dem nicht googelbaren Namen Real, findet sich alles davon, in allen Ausrichtungen, sehr minimalistisch und dennoch überraschend eingängig, dabei theatralisch, zynisch, hoffnungslos. Nagel gibt der Menschheit wenig Überlebenschance – widersprechen mag man ihm nicht, aber wenn der Soundtrack zum Untergang so großartig ist, erlebt man den eben gern mit.

Kein Song ist wie der andere, Nagel wildert in den Genres und verleiht ihnen seinen eigenen Anstrich: Hier hört man Electropop, Breakbeat, Minimal-Electro, auch Industrial, EBM und Techno, aber alles als Transportvehikel für die Ideen, das Konzept, die musikalische Visitenkarte, die Nagel hier überreicht. Seine Melodien sind minimalistisch, reduziert auf wenige Töne, repetitiv, und doch erreicht er damit eine unwiderstehliche Eingängigkeit. Trotz düsterer Visionen und in der Gruftiszene ausgeborgter Genres lässt sich Real dort nicht verorten, weil er dafür zu viel Humor hat. Bösartigen. Sein eingebauter Pop lässt sich sicherlich mit dem der Achtziger assoziieren, aber lediglich in Sachen Zugänglichkeit oder Struktur, nicht in der technischen Herangehensweise: Nagel bleibt in der Gegenwart, wenn nicht sowieso in der Zukunft, so kalt und futuristisch, wie seine Musik bisweilen erklingt. Dazu spricht er mehr als er singt, in einer dunklen, angenehmen Tonlage, der man gern zuhört, die auch in ihrem Minimalismus eingängig ist und die zwar ansatzweise an Rap erinnert, aber vielmehr die Theaterbühne innehat, also – auch mit der Kombination aus Zynismus und Elektronik – eher an das ebenfalls regional ansässige Krüger-Glantz-Quartett angelehnt ist als an Nagels frühere Band Phase V.

Den zehn Tracks liegt eine Dramaturgie inne: Los geht es drei Stücke lang mit sich steigernder Intensität, technoid und tanzbar etwa „Der weise Mann“, böse brüllend „Unversöhnlich“, bis im vierten Stück „Fahrstuhl“ plötzlich für sechs Minuten alle Beats herausgenommen sind und Nagel erzählt, wie gern er sich dem Auf und Ab des Aufzugs hingibt, um für sich zu sein, trotz der Mitreisenden, weil die nur temporär dabei sind und zudem überwiegend schweigen. Das Stück erinnert an die jüngeren Einstürzenden Neubauten, wenn Blixa Bargeld zu minimalistischer Musik vor sich hin assoziiert. Mit „20.000 Meter“ wechselt Nagel zum einen die Längenmaßeinheit von Jules Verne und zum anderen abermals die Ausrichtung: Der Song ist zwar rhythmisch, bleibt aber ohne Beats. Die kommen erst anschließend hinzu, in „Wie Dreck“, von dem man annimmt, es beschreibe die Abscheulichkeit einer Person, doch überrascht Nagel mit einer anderen Eigenschaft der titelgebenden Substanz: „Mich kriegt man nicht mehr weg.“

Im Titelstück zieht Nagel Nachrichtensamples und Politikerinterviews heran, um seine Abscheu der Menschheit gegenüber zum Ausdruck zu bringen: „Gier ist geil“, lässt er uns wissen, auch wenn man zunächst noch glauben will, ihn hedonistisch „Bier ist geil“ rufen zu hören, aber Pustekuchen, hier gibt’s die tanzbare Botschaft. In „Der Pakt“ erinnert seine erhoben im Hintergrund rufende Stimme an Sven Väth alias Off in dessen Stück „Be My Dream“, da kommen die Achtziger wieder zum Ausdruck. Sein „Spiritus“ hingegen gemahnt in Downbeat und Gitarre an die späteren The Fair Sex, ungefähr „Labyrinth“ 1995. Abschließend kredenzt Nagel ein gigantisches Stück Hoffnungslosigkeit: „Der freie Wille“ zieht einem die Tanzschuhe aus und den Teppich unter den nun nackten Füßen weg. „Es gibt keine Lösung, keinen Ausweg, keinen Sinn“, möchte man Oswald Henke zitieren, und mit Nagel schließen: „Aber danke für den freien Willen.“

Trotz einiger feststellbarer Analogien ist Nagel als Real ausnehmend eigen. Sein „Rückzug“ hat etwas Beklemmendes, durch die reduzierten Melodien und die stetige Wiederholung, und das ist nicht die einzige Emotion neben Zynismus, die er vermittelt: Eine gewisse Ausweglosigkeit lässt sich heraushören, und nicht nur daraus resultiert eine Wut. Wie gut, dass Nagel seine Gefühle in rhetorischen Mitteln äußert, nicht physisch. So hat man als Käufer der CD nachhaltig etwas davon.

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