Marc Halupczok & Sarah Quast – Lost & Dark Places Braunschweig – Bruckmann 2022

Von Matthias Bosenick (06.07.2022)

Braunschweig ist dark und lost? Ganz gewiss, und einen nicht geringen Anteil daran hat – wie an viel zu vielen Orten in Europa – die Nazizeit. Marc Halupczok findet dafür erfreulich deutliche Worte, wie er ohnehin zu Deutlichkeit stets neigt, obschon er sich in dieser Auflistung von 33 verwunschenen Flecken im Braunschweiger Land etwas diplomatischer zeigt, als wenn er als Till Burgwächter agiert. Herbstlich-düstere Fotos liefert Sarah Quast dazu; das Wort „kongenial“ möchte hier dennoch vermieden werden, weil es nervt. Halupczok nimmt den Lesenden enorme Recherchearbeit ab und schildert zusätzlich persönliches Erleben, wenn er sich an Kirchen, in Ruinen, auf Friedhöfen oder auch in Tiefgaragen mit Legenden, Spukgeschichten und realem Horror vom Mittelalter bis heute auseinandersetzt. Klassische „Lost Places“, also etwa überwucherte halbverfallene Villen im Wald oder so etwas, hat diese Gegend nur spärlich zu bieten, spannende Geschichten dafür umso mehr. Auch für Einheimische mehr als informativ – und dank Halupczoks lakonischen Schreibstils insbesondere unterhaltsam.

Da schlendert man Tag um Tag durch Braunschweig, kennt die Plätze, Straßen, Gebäude, meint, alles zu wissen – und dann kommen Halupczok und Quast und belehren einen eines Besseren. Besser: Sie informieren, belehren geht anders. Dabei überschreitet das Duo die Stadtgrenzen, was der Braunschweiger an sich ja eher ungern vollzieht, und richtet seinen Blick auch auf Plätze in den Landkreisen und Städten Salzgitter, Wolfenbüttel, Peine, Goslar und Helmstedt. Einige Orte sind dabei gar nicht so versteckt, nur kennt man deren Geschichten einfach nicht, und Halupczok nimmt einem die Arbeit ab, sie sich zu erschließen, nicht allein basierend auf der nüchternen Historie der Gebäude und Gegenden, sondern auch in Bezug auf deren Nutzung und die damit verbundenen Sagen. Was der Autor da nicht alles zutage fördert!

Mit Hexenverbrennungen am Lechlumer Holz geht es los, es folgen Geister von Raubrittern in Lichtenberg, untote Fischer am Kreuzteich und weitere Wiedergänger. Tatsächlich (das Wort, so lernt man hier außerdem, erfand Johann Heinrich Campe; zu ihm und weiteren historischen Persönlichkeiten bekommt man hier quasi nebenbei Abhandlungen) schiebt einem Halupczok mit mancher Erzählung düstere Wolken vor eigentlich sonnige Lieblingsorte; insbesondere das landschaftlich, architektonisch und biologisch einmalige Riddagshausen hat da einige an die Nieren gehende Abgründe in petto. Nicht nur aus dem Mittelalter, sondern auch aus der Zeit der Nazis, die ringsum im Braunschweiger Land katastrophale Vorkommnisse zu verbuchen haben. Selbst der Dom ist davon nicht ausgenommen, und der ist weiß Gott älter als die braune Brut.

Dennoch, das Buch verleitet dazu, selbst auf Abenteuer und Entdeckung zu gehen, im Rammelsberg, in Lengede, am Braunschweiger Hafen oder auf dem Lindenberg etwa. Trotz seiner unterhaltsam sarkastisch verfassten Abhandlungen bleibt Halupczok respektvoll den Orten gegenüber und mahnt überdies zum Geleit, sie wenn überhaupt, dann mit Bedacht zu betreten, weil viele nicht nur einsturzgefährdet, sondern in Privathand sind und man sich unter Umständen als Erkunder solcher Lost Places strafbar macht. Da dies nicht auf alle 33 Orte hier zutrifft, bleibt ausreichend Ansporn für eigene Unternehmungen übrig.

Düstere Wolken bevorzugt auch Quast, die ihre Motive thematisch passend vornehmlich im Herbst und bei schlechtem Wetter fotografierte. Man sollte dieses Buch vielleicht lieber nicht als Tourismusführer anbieten, Ortsfremde bekämen einen ausgesprochen unwohligen Eindruck von dieser Gegend. Andererseits trifft der ja eigentlich auch zu, also warum nicht. Und die Fotos passen perfekt: Ladekräne im Nebel, Ruinen im Regen, mit Birken und Moos überwucherte Schienenstränge und Mauerreste, Bunker, Gräber, Scherben, Stacheldraht sowie vom alten Spießer Halupczok als „Schmierereien“ abgekanzelte Graffiti setzt Quast anschaulich schauerlich in Szene.

Nun ist diese Sammlung von „Lost & Dark Places“ kein originär lokales Vergnügen, sondern Teil einer Reihe, die der Verlag Bruckmann quer durchs Bundesgebiet initiierte; merkwürdigerweise ist die sich exakt südlich an dieses Buch anschließende Ausgabe „Harz“ nicht unter den neun im Abspann aufgeführten weiteren Beispielen aufgeführt. Man könnte dieses Buch also quasi analog auffassen zu Buchserien wie „111 Dinge, die Sie nach Ihrem Tod gegessen haben sollten“, „1000 Alben der Musikgeschichte, die es unbedingt zu hören zu vermeiden gilt“ oder „Die Wahrheit über Tätendorf-Eppensen“. Hier indes gelingt dem Erstellergespann gottlob die Kunst, das Thema explizit auf Braunschweig und Umgebung zugeschnitten aufzubereiten und dem Buch mit vertrautem persönlichem Stil und einer enormen Informationstiefe einen erheblichen Kaufanreiz zu verleihen. Wie wär’s denn übrigens mit einer Lesung am Pool des Waisenhauses an der Salzdahlumer Straße?