Leviathan – Andrey Zvyagintsev – RUS 2014

Von Matthias Bosenick (03.05.2015)

Ein zähes Werk legt Andrey Zvyagintsev mit seinem systemkritischen 140-Minuten-Drama „Leviathan“ vor. Zäh deshalb, weil die Handlung dünner ist, als es die Dauer des Films suggeriert, und weil die Geschichte in der Mitte vom Politthriller zum Drama kippt. Das mag typisch russisch sein, das mag auch ästhetisch ansprechend gefilmt sein, aber die Drama-Teile konterkarieren zu sehr die guten Polit-Ansätze und damit auch die beabsichtigte Aussage, dass das System im Russland dieser Tage nur mit Korruption funktioniert. Wenn einen die Hauptfigur auch noch wie hier sehr gleichgültig lässt, ist einem ihr Schicksal dummerweise reichlich egal, besonders dann, wenn es auch noch zu einigen Anteilen selbstverschuldet ist. Typisch russisch sind überdies die Dialoge, die zu den definitiv attraktiven Momenten in „Leviathan“ zählen.

Zunächst macht einen die aus der russischen Literatur bekannte Tatsache etwas orientierungslos, dass die Charaktere eine Unzahl an Namen und Bezeichnungen tragen: den vollen Namen, Vor- oder Nachnamen, Rufnamen, die Funktion, die Herkunft. Das bedeutet, dass man sehr aufmerksam sein muss, um der Handlung zu folgen, sonst braucht man etwas, um zu begreifen, wer da mit wem gegen wen arbeitet und warum überhaupt. Das ist nämlich das Wichtige an „Leviathan“; das biblische Monster steht hier stellvertretend für das System, gegen das Kolia sich wehrt. Der wiederverheiratete Vater eines pubertierenden Sohnes soll vom Bürgermeister eines Städtchens in der nordrussischen Provinz aus seinem Haus vertrieben werden. Dagegen geht er im Rahmen des Gesetzes vor, indem er einen befreundeten Anwalt aus Moskau einschaltet. Sie bauen hoch motiviert auf Recht und Ordnung – und sehen sich doch einem Apparat ausgeliefert, der nicht nur körperlich ihre Existenzen zu zerstören in der Lage ist.

Die kritische Haltung gegenüber Russland äußert der Film nicht allein damit, dass die Gegenwehr der übermächtigen Obrigkeit ungesetzlich und korrupt ist. Das allein ist vermutlich schon exorbitant mutig unter Vladimir Putin. Doch auch mit Dialogen unterstreicht Zvyagintsev seine Abscheu: Er lässt etwa eine Geburtstagsgesellschaft auf Porträts früherer russischer Präsidenten schießen. Es fehlen dabei Jelzin (zu klein) und Putin (noch nicht genug geleistet, um ein würdiges Ziel zu sein).

Das allein macht aber nicht diesen Politfilm aus. Einen Löwenanteil bestreitet das Drama um Kolia. Er ist cholerisch und nicht gerade charmant im Umgang mit seiner Frau Lilya, die wiederum von Kolias Sohn nicht akzeptiert wird. Als sie eine Affäre mit Kolias Anwaltfreund Dimitriy beginnt, brechen zwischenmenschliche Konflikte aus. Zudem überschätzt Dimitriy seine rechtliche Handhabe gegen den Bürgermeister und flieht nach Moskau. Zwar kehrt Lilya zu Kolia zurück, doch trägt sie schwer an den Folgen ihrer Affäre, was wiederum das brutale Netzwerk des Bürgermeisters zerstörerisch gegen Kolia einzusetzen weiß.

Ohne den Affärenteil läge in der Systemkritik des Films mehr Potential. Aus nichtrussischer Sicht hätte es des Dramas nicht in dem Ausmaß bedurft, doch spiegelt genau dies vermutlich eine Gegenwart, wie sie eben wirklich in Russland Alltag ist. Jeder Umbruchsversuch scheitert an der Seelenlage der handelnden Personen. Das zeigt der Film sehr deutlich; doch solche depressiven Tiefen in einem unveränderlichen System kennt der Kinogänger aus finnischen Filmen der 80er und 90er, heute wäre eine zusätzliche andere Komponente willkommen gewesen, um „Leviathan“ herausragend zu machen.

Filmisch immerhin ist „Leviathan“ etwas Besonderes. Die Kamera wirkt selbst dann statisch, wenn sie sich bewegt; das ist ein eigentümlicher Eindruck und weckt bisweilen Beklemmung. Die Bilder sind überwiegend so dunkel, dass man sich versucht sieht, an der Leinwand die Helligkeit nachzuregeln; das passt zur Stimmung. Der Einsatz von Musik ist skandinavisch karg; wo sie nicht aus Radios plärrt, schweigt sie weitgehend. Es gibt vereinzelte Brummtöne sowie Stücke von Philip Glass‘ 1983er-Arbeit „Akhnaten“ zum Eingang und zum Abspann.

Trotz vieler witziger Dialoge („Du kannst nicht vor dir selbst fliehen.“ – „Nein, aber vor dir.“) und der respektablen kritischen Haltung kommt man extrem geplättet aus dem Kino. Kolias hat es sich nicht nur mit dem Bürgermeister verscherzt, sondern auch mit dem Zuschauer. Das ist dumm, nicht tragisch.