Ermes|Harms – Fingerhut – Sireena 2020

Von Matthias Bosenick (13.11.2020)

Vom Gothic Rock zum Ambient, so geht das mit den abgelegten Scheuklappen: Ein Doppel-Album veröffentlichen Axel Ermes und Hauke Harms, mit eher beatlosem Ambient auf der ersten und entfernt den Industrial anvisierendem Electro auf der zweiten CD. Die Einflüsse ihrer ehedem gemeinsamen Band Girls Under Glass lassen sich hier nicht zwingend heraushören, nicht einmal der Umstand, dass einige der Aufnahmen bis ins Jahr 1989 zurückreichen – für diese Sammlung plünderten Ermes|Harms ihre in 30 Jahren und über 20 Sessions angehäuften Archive und belegen, wie zeitlos solch eine vorwiegend analog generierte Entspannungsmusik doch sein kann.

Unaufgeregt und geschlossen, das fällt beim ersten Hören auf, sind die in Summe zwölf Tracks. Bei der ersten CD ist man geneigt, zu sagen, unspektakulär; es ist halt Electro ohne Beats und mit spacigem Gedudel, wie man es seit Anbeginn der Berliner Schule und anderer Ambientpioniertaten kennt. Klassische Teppiche indes generiert das Duo selten, sondern verlässt sich vielmehr auf sich wiederholende kurze Sequenzen, garniert mit Zisch- oder Sphärensounds, gelegentlich angereichert mit beinahe so etwas wie einer Melodie, jedoch nicht im Popsinne, sondern in der Tradition des Ambient, von irgendwo aus dem Kosmos stammend oder wie ein monotones Streichensemble klingend. Es dauert, bis der erste rhythmische Sound einsetzt, und das lediglich beim dritten Track und auch nicht als satter Beat. Nicht vordergründig einlullend, weil dafür zu unkitschig, sondern tatsächlich entspannend ist diese erste CD.

Die zweite CD rüttelt einem erstmal die Gehörgänge durch: Es wird anstrengend, wenn man sich noch in der Wunderwatte aufhält, denn das Duo zelebriert plötzlich einen Electro, der sich recht überzeugend vom europäischen Industrial beeinflussen ließ. Ermes und Harms entlocken ihrem Maschinenpark Noise, Verzerrung und Beats, die allesamt quasi über dem liegen, was auf der ersten Hälfte noch rein schön klang, und das Ganze ohne das Tempo anzuziehen, sondern brutal schleppend. Hässlich ist dies nun mitnichten, im Gegenteil, es ist sogar beinahe erforderlich, dass hier etwas passiert, weil der „Fingerhut“ ansonsten zwar angenehm, aber wenig besonders daherkäme. Hier finden Dunkel-und-Düster-Fans vermutlich noch eher Berührungspunkte, wenngleich diese Form des Industrial auch in der Szene kaum mehrheitsfähig ist. Im Verlauf wandeln die beiden Experimentatoren die Sounds etwas ab, werden milder, berücksichtigen Tribal-Elemente und kehren letztlich zum zirpenden Ambient zurück – um recht überraschend mit einem relativ klar gespielten Prog-Keyboard-Stück zu schließen.

Die Aufnahmen verlegte das Hamburger Duo über die Jahre übrigens aus diversen Studios in Feld- und Wiesenlocations; das Label führt da exemplarisch den Goslarer Rammelsberg, ein Wasserwerk in Billbrook und ein leers Silo in der Nordheide auf. Bei der Titelgestaltung halten sich Ermes und Harms an die Tradition, gekreuzt mit etwas Dominik Eulberg: Die Tracks der ersten CD sind nach Farben und Zahlen (und in der Mitte gemischt: „Farbe 23“) benannt, die auf der zweiten driften ins Fantastische und in die Natur („Märchen 1“, „Margeriten am Bach“) – da ist es bis zum „Fingerhut“ nicht weit. Dafür aber musikalisch zu den anderen Projekten, an denen Harms und Ermes neben diesem und Girls Under Glass sowie Trauma und Traum-B so beteiligt sind und waren – ein Who Is Who der Electrogruftmucke: Axel Ermes etwa hat auf seinem Zettel unter anderem The Cassandra Complex, Nefkom und Cancer Barrack, Hauke Harms noch Calling Dead Red Roses stehen, als Beteiligter listet Ermes eine Vielzahl weiterer Bands auf, darunter Wolfsheim und Project Pitchfork.

Mit „Fingerhut“ kommt nun also das nächste gemeinsame Kapitel hinzu – und sicherlich nicht das letzte: Offenbar häuften die beiden in 30 Jahren 75 Stunden Material an, und darunter finden sie bestimmt noch mehr, das für eine Veröffentlichung taugt. Ansonsten hören wir sie eben in 30 Jahren mit der Fortsetzung wieder.