Von Guido Dörheide (15.04.2023)
Ich habe lange überlegt, ob und warum ich hier etwas über das neue Album von Metallica schreiben sollte. Eine Band, die mich seit kurz nach 1991 eigentlich nur noch ankotzt. Eine Band, die vier großartige Alben gemacht hat, von denen das letzte lausig produziert war. Eine Band, die damals, also vor 1991, zum Härtesten und textlich Unverdaubarsten gehörte (also aus meiner damaligen, kindlichen Sicht), das ich kannte, und auf die sich seit knapp 30 Jahren die ganze Welt einigen kann und deren beknackte Symphonieorchestereskapaden aus welchen Gründen auch immer irgendwie außer bei mir nicht unforgiven sind. Warum also? Was haben Metallica sozusagen je für mich getan?
Nun, Metallica haben mich mit „Ride The Lightning“ dazu gebracht, Metal-Fan zu werden. Was gar nicht stimmt, außer Metallica konnte man mir damals mit dem gesamten Metal komplett gestohlen bleiben. Es waren Iron Maiden, die mich letztlich bekehrt haben, als ich mich Ende der 2000er Jahre an „Live After Death“ aus dem Plattenregal meines Freundes Klaus erinnerte, mir die CD kaufte und darob zum Metal-Fan wurde. Aber Wurscht: Mit „Fade To Black“ haben Metallica erfolglos versucht, mir über meinen damaligen Liebeskummer hinwegzuhelfen (ja ich weiß, dass der Text damit nichts zu tun hat, aber auf der Flucht vor dem „Werther“ meines Deutschlehrers war ich bereit, mich in jeder düsteren Lyrik wiederzufinden), „One“ habe ich ob dessen absoluter Verzweifeltheit über alles geliebt, „Dyer‘s Eve“ war die musikalische Untermalung der besten Sequenz unseres Abi-Films, „For Whom The Bell Tolls“ und „Seek And Destroy“ begeistern mich mit ihren innovativen Riffs immer noch, wenn ich sie mal im Radio höre, und über die komplette „Master Of Puppets“, die sich seit Jahrzehnten mit Maidens „Number Of The Beast“ um den Titel „Best Metal Album ever“ kloppt, brauche ich hier wohl nichts zu sagen. Und mit „Kill ‘em All“ haben Metallica 1983 den Thrash Metal quasi erfunden, alle anderen großen Bands in diesem Subgenre kamen erst später. Dennoch waren Metallica für mich in den letzten drei Jahrzehnten so etwas wie der FC Bayern des Metal: Erfolgreich, aber ungenießbar und unsympathisch. Dennoch habe ich in „72 Seasons“ mal reingehört, und scheiß die Wand an – es entpuppte sich als sowas wie der Aquädukt von Metallica:
Mit dem Titelstück fängt „72 Seasons“ schon mal schön gut hörbar an: Natürlich ist es nicht „Metallica wie früher“. Das setze ich aber auch nicht voraus, immerhin sind die beiden noch verbliebenen Mitglieder der Urbesetzung (ich möchte hier jetzt keine Dave-Mustaine-Diskussion lostreten, also ich meine die Urbesetzung des ersten Albums) inzwischen nicht mehr 19 wie zu Zeiten des Debütalbums, sondern immerhin 59. Da darf man auch mal etwas altersmilde klingen, zumal dann, wenn es sich besser anhört als auf allem, was man in den vergangenen Jahrzehnten veröffentlicht hat. Nach dem ersten Durchlauf des Albums hatte ich das Gefühl, einer Band mit der Spielfreude der „Garage Days“-Cover-EPs aus den 80ern zu lauschen. James Hetfield und Lars Ulrich geben hier wirklich alles, und vor allem über den Letztgenannten sage ich hier gerne mal, dass er zwar nicht zu den besten Schlagzeugern aller Zeiten gehört, sein charakteristisches Spiel mir jedoch bei den ersten Metallica-Alben immer viel Freude gemacht hat und dass er vor allem als Gründer, Strippenzieher und Songschreiber nicht nur für Metallica, sondern den gesamten Metal nicht wegdenkbar ist. Ulrich und Sänger/Rhythmusgitarrist Hetfield haben alle Songs des neuen Albums geschrieben, an vieren hat Leadgitarrist Kirk Hammett mitgeschrieben und an vier anderen Bassist Robert Trujillo (herrlich das Bassintro von „Sleepwalk My Life Away“!). Unterm Strich ist „72 Seasons“ also ein Hetfield-Ulrich-Werk. Und was für eins: Das Titelstück läuft fast acht Minuten lang, beginnt mit Becken und abgehackter Gitarre, und dann galoppiert Ulrich los, begleitet von Hetfield. Das hat wirklich was von den Metallica der 80er Jahre, klingt jetzt aber irgendwie harmloser, wahrscheinlich aber deshalb, weil es inzwischen deutlich brachialer klingende Bands gibt, deren Sound jedoch ohne die Pionierarbeit der frühen Metallica (und ihrer Mitstreiter wie z.B. Megadeth, Slayer, Kreator, Sodom usw. usw.) vermutlich nicht hätte entstehen können. Hetfield spielt wie gewohnt präzise und schnell, sein Gesang ist melodisch und aggressiv wie früher, ein James Hetfield muss nicht schreien, um sich Gehör zu verschaffen, und seine Stimme ist immer unverkennbar. Verkacken tut er es nur, wenn er Stücke covert, die ihm nicht liegen (Queen/Thin Lizzy/BÖC, um nur einige zu nennen), und das tut er hier zum Glück nicht. Ich bin ohnehin der Meinung, dass es vor allem Hetfield ist, der durch seine Gitarrenarbeit und seine Art zu singen den Sound von Metallica definiert. „72 Seasons“ ist ein gutes Beispiel dafür: Ein durchweg schnelles Stück, und warum man dafür fast acht Minuten braucht, ist mir nicht klar, aber Metallica schaffen es im Jahr 2023, so lange in hohem Tempo und mit nur wenig Abwechslung durchzuhalten, ohne dabei zu langweilen. Und das zum Teil tatsächlich, weil es Spaß macht, Hetfield zuzuhören. Das folgende „Shadows Follow“ – auch mehr als sechs Minuten lang – rockt lässig vor sich hin, fällt nicht weiter auf, nervt aber auch nicht. Irgendwie einfach schön. Dann wird es abwechslungsreicher: „Screaming Suicide“ beginnt mit einem mitreißenden Riff, überhaupt verlässt die Rhythmusgitarre hier mal endlich das untere Ende der Tonleiter und das zweite Solo könnte auch von Motörhead stammen. Ich als laienhafter Banause bin ja ohnehin der Meinung, dass man Hammett bei Metallica gerne komplett weglassen könnte, auch wenn einige seiner Soli (die, in denen er nicht permanent auf dem Wah-Wah herumhüpft?) wirklich schön sind, aber bei diesem Song geben er und Hetfield sich die Klinke in die Hand, dass es eine wahre Freude ist.
Mit „Sleepwalk My Life Away“ und „You Must Burn!“ folgen zwei siebenminütige Stücke, dann kommt „Lux Aeterna“ – nur knapp drei Minuten lang und bereits im vergangenen Jahr als Vorab-Single veröffentlicht. Eine in meinen Ohren durchaus gelungene Mischung aus Thrash und dem Heavy Metal alter Schule, und Ulrichs Schlagzeugspiel erinnert teilweise an „Overkill“ von Motörhead. Schön!
„Crown Of Barbed Wire“ und „Chasing Light“ finde ich solide, aber nicht herausragend, das danach ertönende „If Darkness Had A Son“ dafür umso mehr: Das Drum-Intro klingt irgendwie plastikmäßig, aber zum Glück nur, bis Hetfields Gitarre einsetzt, danach macht Hammett eine schöne Melodie und wir warten auf den Gesang: Und der klingt düster und sehr schön nach früher. Vor allem die Refrainzeile „If Darkness had a Son – here I am“ macht mächtig Eindruck.
„Too Far Gone“ und „Room Of Mirrors“ sind dann wieder sehr solide und auch wirklich gut, aber mit „Inamorata“ haben sich Metallica dann nochmal ein schönes Highlight fürs Ende des Albums aufgespart: Über 11 Minuten lang und eher Mid-Tempo – kann das gutgehen? Es kann! Auf der Hälfte des Stückes gönnen sich die Gitarren eine Ruhepause und Schlagzeug und Bass treten in einen gesitteten Dialog ein, darüber legt sich dann ein ungewohnt zurückgenommener Gesang von Hetfield, bis er dann wieder lauter wird und danach verschiedene langsame und melodiöse Soli den zweiten Abschnitt des Stücks einleiten. Ich habe erwartet, dass es irgendwann vor Schluss noch mal thrashig losballert, aber das passiert nicht, und das tut dem Stück sogar gut. Hetfield besingt die ihm anscheinend sehr liebgewordene „Misery“ mit einer Inbrunst, dass ich über weite Strecken denken musste, es handele sich dabei um seine Katze und nicht um das ihm innewohnende Lebensgefühl. Zumal er diese „Misery“ auch immer als „she“ und nicht als „it“ bezeichnet. Im Laufe des Textes wird dann deutlich, dass Hetfield sich hier eher an einer schweren Depression abarbeitet als an einem eigensinnigen Haustier. Ich bin es zwar von den frühen Metallica gewohnt, dass viele der in den Texten in der Ich-Form beschriebenen Emotionen nicht autobiografisch sind, hier habe ich dennoch den Eindruck, dass Hetfield über eigene Erfahrungen singt. Heaven knows he‘s miserable now (and I feel fine), hätte ich fast gesagt.
Ich fasse also zusammen: Mit dem schwarzen Album haben mich Metallica trotz anfänglicher Begeisterung für einige der dort enthaltenen Stücke vergrault, alles danach bis einschließlich „St. Anger“ kann ich hier nicht erwähnen, ohne dass ob meiner ausufernden Beschimpfungen andauernd Pieptöne erschallen, „Death Magnetic“ mag zwar in die frühere Richtung zurückgegangen sein, aber was nützt das, wenn mir allein vom schmierig-schlüpfrigen Cover-Artwork schon immer schlecht wird, und bei „Hardwired…“ keimte bei mir wieder Hoffnung auf, dass Metallica vielleicht irgendwann doch noch ein würdevolles Alterswerk abliefern könnten, wie es alle anderen wichtigen Metal-Bands seit Jahrzehnten vormachen, aber so richtig überzeugen konnte es mich nicht. Mit „72 Seasons“ gelingt das nun endlich: Ich für meinen Teil bin mit Metallica versöhnt und freue mich, dass sie endlich aufgehört haben, die Lorbeeren der ersten vier Alben mit Schmackes durch den Schredder zu jagen.