Von Guido Dörheide (17.08.2024)
Christof mal wieder. Der Hesse, der Checker, die Legende. „Sag mal, Guido, kannst du etwas mit der Musik von Tom Jones anfangen?“, schrieb er mir am vergangenen Dienstag. „Oh ja“, war meine Antwort, und dann er so: „Was machst du denn morgen Abend? Ich habe eine Karte zu viel und lade dich gerne ein.“ Also haben die Liebste und ich unsere Mittwochsplanung auf den Freitag verschoben und am Mittwoch bin ich nach Feierabend über Peine gen Niedersachsenstadion gefahren. Direkt nebenan, auf der Gilde-Parkbühne, fand das Konzert vor zweieinhalbtausend Zuschauenden statt. Wir waren früh da, standen in der Eingangsschlange ganz vorne und konnten uns deshalb problemlos Plätze direkt vor der Bühne sichern.
Während wir auf Einlass warteten, kam NDR1 und stellte Radio-Niedersachsen-Fahnen vor die Lokalität und ich sagte zu Christof, dass ich vor 30 Jahren jeden, der behauptet hätte, ich würde dereinst ein Konzert besuchen, bei dem Radio-Niedersachsen-Fahnen vor der Lokalität stehen, mit der Wasserwaage die Straße heruntergejagt hätte. So ändern sich die Zeiten, Radio Niedersachsen höre ich inzwischen lieber als die unsäglichen Rockradioformate („Und hier, für alle, die – genau wie ich – Montage nicht mögen: ‚I Don‘t Like Mondays’ von den Boomtown Rats“… ignorante Komplettignoranz in Reinkultur), früher haben sie für das in die besten Jahre gekommene Publikum Schlager gespielt, heute hört diese Altersgruppe andere Sachen, die vor 30 Jahren erfolgreich waren und ebenso gut gut gealtert sind wie die Zielgruppe, also gibt es auf Radio Niedersachsen viel guten Rock und Pop zu hören. Aber ich schweife ab: Vor der Bühne unterhalten wir uns mit einem sehr sympathischen Gleichaltrigen, der darauf wartet, dass sich seine Frau samt Bier zu ihm gesellt, fachsimpeln über Jones und unsere Erwartungen ob seiner zu erwartenden stimmlichen Fähigkeiten und Bühnenpräsenz, immerhin ist der Künstler ja auch schon 84 Jahre alt, ein Alter, das mein Opa nicht erreicht hat, und pünktlich um 20 Uhr betritt dann auch schon der Tiger die Bühne: Steifbeinig (wie Christof aufgrund einer persönlichen Begegnung im Flugzeug vor wenigen Monaten weiß, geht er normalerweise am Stock, auf der Bühne trägt er unter dem lässigen Hemd und der Jeans ein Stützkorsett), aber äußerst gut gelaunt und mit einem schalkhaften, lausbübischem Grinsen, das bis weit über die Augen reicht und dem Publikum das Gefühl vermittelt, dass der Künstler das Ganze hier nicht im Geringsten nötig hat, es aber dennoch auf sich nimmt, weil er einfach Bock drauf hat. Ehrlich, das war der erste Gänsehautmoment eines an Gänsehautmomenten nicht eben armen Abends: Der große Tom Jones bewegt sich strahlend auf sein Publikum zu, das ihn liebt und ihn feiert, und er liebt und feiert nicht einfach nur zurück, sondern liefert auch noch eine Performance ab, die den Zuhörenden und -schauenden noch lange im Gedächtnis bleiben wird.
„I’m Growing Old“ ist der erste Song, und nicht nur die Treffsicherheit bei der Auswahl des Openers beeindruckt, sondern auch oder besser vor allem die stimmliche Präsenz des großen alten Mannes: Die musikalische Untermalung bei diesem Song ist sehr zurückgenommen, er lebt fast ausschließlich vom Gesang, und Tom Jones singt quasi alles in Grund und Boden. Diese Stimme hört sich nicht einfach nur toll an, sie ist kraftvoll, wackelt niemals und bringt Hannover zum Erzittern. Zweiter Gänsehautmoment.
Mit Dylans „Not Dark Yet“ geht es auf unglaublich hohem Niveau weiter, wobei ich hier jetzt schon mal die Band erwähnen möchte und das auch hiermit tue: Die fünf Männer auf der Bühne machen wirklich die Hölle von einem Job. Allen voran Gary Wallis, der musikalische Direktor des Ganzen, am Schlagzeug und – bei der alles andere als nicht unüblichen Version von „It’s Not Unsual“ – an den Congas. Seinem Spitznamen „Damage“ macht er auch in Hannover alle Ehre: Insgesamt zweimal sah ich den Roadie eine neue Snare zu Wallis herüberreichen, allem Anschein nach war der Gerät wohl im Arsch. Ebenso wie meine Informationsallokation – leider war ich nicht in der Lage, die Namen der übrigen Bandmitglieder zu recherchieren. Zwei Gitarristen an offensichtlich uralten Strats, Teles und Gibsons, ein Bassist und ein Keyboarder (unter anderem an einer wundervollen, alten, hölzernen Hammond) bildeten eine wundervolle musikalische Grundlage für den Auftritt des großen alten Mannes des weißen Soul, des Rhythm & Blues, der Popmusik, des Rock’n’Roll, des Alternative Rock und des „Ich stehe vor ihr mit dem Messer in der Hand und sie lacht nicht mehr“. Ganz klar, den Ton gibt an diesem Abend der Meister selbst an, er steht im Vordergrund, ohne sich wirklich in diesen zu spielen, er unterhält die Zuhörenden, er vergöttert seine Musiker und schaut ihnen traumverloren beim Solieren zu, er erzählt Anekdoten aus 60 Jahren Bühnentätigkeit, stellt eine enge Beziehung zu Hannover her (Mousse T., Komponist und Produzent des 1999er Überhits „Sexbomb“, soll wohl auch im Publikum gewesen sein) und lässt allen Musikern Raum für hammermäßige Soli. Abwechselnd sind sie alle hinter Jones auf der großen Videoleinwand zu sehen, die ansonsten Jones aus abwechselnden Perspektiven, Sequenzen aus alten Videos, Fernsehbilder von JFK, Michael Jackson, Donald T. etc. (beim wundervollen und sehr schlauen „Talking Reality Television Blues“) sowie eine alte Jukebox mit Jones in der Mitte zeigte.
A propos „Talking Reality Television Blues“: Das ist ein Stück aus dem aktuellen, 2021 erschienenen Album „Surrounded By Time“, von dem ich allen Lesenden die „Hourglass Edition“ zu erstehen ans Herz legen möchte, denn nur diese enthält unter anderem „Not Dark Yet“ sowie das unglaubliche „One Hell Of A Life“, das Jones vor den Zugaben spielte und das den gänsehautmäßigsten unter allen Gänsehautmomenten markierte: Wenn er dereinst tot ist, sollen die Hinterbliebenen nicht herumphilosophieren oder Bedauern zeigen, denn er hätte eine Hölle von einem Leben gehabt. Dasselbe gelte für die Hörenden des Liedes: Auch sie hätten eine Hölle von einem Leben gehabt. Und dann stellt Jones fest, er hätte diese eine Hölle von einem Leben ja jetzt noch, und er freut sich, und er wird gefeiert, und eine wahnsinnig intensive Euphorie ergreift das Auditorium.
Man möchte ihn knuddeln, den Mr. Jones (den Frau Dr. Erika Fuchs in ihren Übersetzungen von Carl Barks’ Donald-Duck-Romanen als „Zacharias Zorngiebel“ eingedeutscht hat), wie er da gleichermaßen zerbrechlich und unsterblich auf der Bühne steht, sich manchmal an einen extra dafür bereitgestellten Barhocker lehnt, mit diesem jungenhaften Strahlen ins Publikum grinst und dabei singt, als hätte er das 40. Lebensjahr noch nicht erreicht. Und immer wieder erläutert er die Songs, erklärt, wer sie geschrieben hat, und leitet sie ein mit „… and it goes like this…“, begleitet von seinem üblichen unwiderstehlichen Grinsen.
Ach ja, noch einige Worte zur Songauswahl: Wie gesagt, der Geniestreich mit „I’m Growing Old“ zu Beginn und „One Hell Of A Life“ als Ende der normalen Setlist war schon mal mehr als gelungen, zwischendurch gab es zweimal Dylan, wobei „Another Cup Of Coffee“ mit auf der Videoleinwand eingeblendeten Songzeilen besonders herausstach, haufenweise Hits wie „It’s Not Unusual“, „Delilah“, „What’s New Pussycat?“ oder „Sexbomb“ und außerdem ganz viele Songs aus dem unglaublich großartigen „Surrounded By Time“, wie z.B. Leonard Cohens „Tower Of Song“ oder Dusty Springfields „The Windmills Of Your Mind“. Und bei alledem konnte das Publikum den Hut aufbehalten und sich denken „Gießt der Eros Öl ins Feuer, sucht Amore Abenteuer.“
Weltklasse auch, was Jones alles an Anekdoten zwischen den Songs unterzubringen in der Lage ist: Er, der seit tatsächlich 60 Jahren im Musikgeschäft tätig ist, hat viele längst verstorbene große Künstler:innen kennengelernt und erzählt von den Begegnungen mit ihnen sehr unaufgeregt und ohne sich als den großen Zamperoni darzustellen. So erzählt er zum Beispiel von einem Treffen mit Elvis Presley in Las Vegas, der Jones erzählte, dass gleich der große Chuck Berry aufträte und ob man ihn sich gemeinsam ansähe, denn immerhin sei doch Chuck Berry „der König des Rock’n’Roll“. Und glücklicherweise blieb dieses Mal das, was in Las Vegas passierte, nicht in Las Vegas, denn dass ausgerechnet der King of Rock’n’Roll himself diese Rolle nicht sich selbst, sondern verdientermaßen Chuck Berry zugedacht hat, wärmt wirklich das Herz wie Sau und gehört an die Öffentlichkeit. Nächster Gänsehautmoment, ain’t it?
Wie schon mehrfach erzählt, beendete das wunderschöne „One Hell Of A Life“ die Setlist, und nach der Rückkehr der Band auf die Bühne erzählte Jones, dass es nun ein Rhythm-&-Blues-Gospel-Medley zu hören gäbe und er und die Band legten mit „Strange Things Happen Every Day“ los. Every Day. Every Day. Ich dachte nicht, dass sich der große alte Waliser noch weiter verausgaben könnte, doch er konnte, nämlich mit „Johnny B. Goode“, bei dem auch die beiden Gitarristen wieder glänzten, als säße Marty McFly höchstpersönlich ihnen im Nacken. Mehr geht dann wirklich nicht, und die Spielzeit bewegt sich auch schon sehr auf die Zwei-Stunden-Marke zu. Anderseits war da diese Jukebox auf der Videoleinwand, auf der neben „It’s Not Unusual“, „Sex Bomb“ und „Johnny B. Goode“ auch noch „Great Balls Of Fire!“ stand. Und ja, Tom Jones erzählte dem Publikum, dass er den Rock’n’Roll der 50er Jahre über alles liebe und dass er einen Lieblingssong aus dieser Ära hätte – nämlich „Great Balls Of Fire!“ von Jerry Lee Lewis. Und mit diesem beschloss er einen denkwürdigen und wunderbaren Konzertabend.