Von Matthias Bosenick (13.10.2024)
Mein alter Biolehrer hat jetzt auch eine Band, der Herr Acher. Der singt da, aber das kann man oft kaum hören, und er spielt Gitarre, aber nicht so richtig gut, der haut da immer so mehr drauf rum, und dann drückt er auf Synthies irgendwelche Tasten oder macht an einem Plattenspieler herum, und die anderen sechs machen wohl eigentlich die Musik, auch so mit Synthies, und Harmonica, Tuba, mehr Gitarren und so Zeug, die steigern sich da so in ihre Mucke rein, das soll wohl so elektronische Rockmusik sein, und dann wird es plötzlich Techno und Reggae und Free Jazz und Madchester-Rave und Hardcore und Dub, meine Güte, und erst zum Schluss so ein bisschen mehr so Rockpop. In mündlich hat er mir mal 12 Punkte gegeben, der Herr Acher, für ein Referat, fand ich gut. Ach ja, The Notwist heißt seine Band, und mit der war er im WestAnd in Braunschweig. Und machte den Saal glücklich.
Anders gesagt: Das war eine der intensivsten Live-Erfahrungen, die man so hat haben dürfen. Zwei Stunden elektrisierende Power. Besonders die Tracks vom jüngsten Album „Vertigo Days“ grooven und loopen hier hypnotisch-trancig und bereiten schon die Öffnung des Genreschranks vor, bei dem The Notwist bald so ziemlich jede Schublade öffnen, sich darin bedienen, die Inhalte durcheinanderwirbeln und etwas Komplexes, aber Tanzbares und immerzu Staunenswertes daraus generieren. Die sieben Musizierenden – Markus und Michael Acher an Gitarre und Bass, Andreas Haberl am Schlagzeug, Karl Ivar Refseth am Vibraphon, Theresa Loibl an Bassklarinette und Melodica, Christoph „Cico“ Beck an Synthies und Gitarre und Max Punktezahl an weiteren Keyboards und Gitarre – holen das tanzlustige Publikum aus dem Stand mit unendlichen Grooves ganz nach vorn.
Ist das noch The Notwist? Als jemand, der die Band seit „Johnny And Mary“ 1993 hört und verfolgt, hat man so seine Schwierigkeiten, sich bei diesem ersten Live-Kontakt vorzustellen, wie die Weilheimer ihre reduzierte, elektronisch untermauerte Kunstmusik, die auf Platte so enorm gut funktioniert, weil man sich da mit sich selbst und der Musik versenken kann, auf einer Bühne darbieten würden, in welches Gewand kleiden, welche Emotionen auslösen. Es ist alles komplett anders als gedacht, mit diesen Beats und Grooves, mit den Experimenten, mit den Synthiespielereien, mit den Gitarrenwänden, mit der gelegentlichen Tuba als Bass, mit Mauern aus Sound, die sie in den Raum kippen lassen, mit den Kakophonien, die sie entfesseln, mit den Brüchen, der Reduzierung und dem Lärm, mit der permanenten Absonderung von Sound, dem unentwegten Aufrechterhalten der Aufmerksamkeit, und das auch noch so geil abgemischt, dass man in der ersten Reihe stehend eindeutig zu hören bekommt, welcher Ton von welchem Musizierenden erzeugt wird, der Sound ist dreidimensional und alle sieben Beteiligten sind unglaublich in dem, was sie tun.
Haberl, der Animal des Jazz, der inmitten eines noch tanzbareren Stückes den Drum And Bass analog einprügelt, mit einer brüllenden Energie, vor der sich auch die anderen auf der Bühne wegzuducken scheinen. Der ewig grinsende und Fröhlichkeit verbreitende Refseth am Vibraphon, bei dem unklar ist, ob er sich von der Begeisterung des Publikums zu so strahlendem Lächeln hinreißen lässt oder ob er damit das Publikum entflammt. Punktezahl, der, wenn er nicht mit der Gitarre Sondersounds in die Songs rockt, wie ein Flummi an seinem Keyboard herumhüpft. Loibl, die zwischen vermeintlich unrockigen Instrumenten wild wechselt und jedes Mal einen exklusiven Bonus-Ton in die Stücke integriert, ohne den sie unvollständig wären. Michael Acher, dessen Bass bisweilen so tief tönt, dass die anderen Sounds wie zerhackt von der Bühne dringen, und der diesen Effekt auch mit der Tuba zu erzeugen in der Lage ist. Beck, der wie der Schüler an der Tafel hochkonzentriert und in sich gekehrt seine Beiträge bringt. Und Markus Acher, der fast nie das Wort an die Braunschweiger richtet und wie verschüchtert sein gefeiertes Werk verrichtet.
Bemerkenswerte Momente gibt es so viele, dass der ganze Abend ein einziger bemerkenswerter Moment ist. Wie sie plötzlich zu dritt in den Hardcore der Anfangstage zurückdreschen. Wie sie den Singlehit „Pilot“ einspielen, nach einiger Zeit live remixen, Acher seine Stimme durch Gerätschaften jagt und zerhackt, die Band plötzlich in einen Techno verfällt und die Meute minutenlang abzappeln lässt, und wie sie dann abrupt und übergangslos zu „Pilot“ zurückkehrt. Wie Refseth zum letzten Song die vollends außer Rand und Band befindliche Meute dadurch schlagartig komplett zum Schweigen bringt, dass er sein Vibraphon extremst zart anschlägt und damit eine unglaubliche Spannung generiert. Wie dann zwischen dem verhallenden letzten Ton und dem losbrandenden Applaus aus der Tiefe des Saales eine Stimme sagt: „Ihr seid sooo geil!“