Von Matthias Bosenick (24.10.2018)
Als ich 1993 nach Wolfsburg kam, um dort meine Ausbildung zu machen – ja, in genau jenem Betrieb –, da kam ich aus einer Gesellschaft, in der es normal war, anders zu sein, in der Diversität einigermaßen Standard war und es zum allgemeinen Umgang gehörte, sich von anderen inspirieren zu lassen, sich kritisch mit Geschichte und Politik auseinanderzusetzen, und sich aus der Menge der verfügbaren Kulturgüter das herauszusuchen, das einen persönlich ansprach; und ich kam in eine Gesellschaft, in der der Gleichtakt alles dominierte, von der Musik über Film, Literatur und Kunst über Mode bis zu Sprachgebrauch, Ausgehverhalten und Hobbys sowie der Verweigerung, sich mit der Grundlage für seine eigenen Entscheidungen auseinanderzusetzen oder das Allgemeingegebene zu hinterfragen. Schnell wurde ich zum Außenseiter – der es dadurch wiederum leicht hatte, die anderen Außenseiter zu finden. Die gibt es in Wolfsburg, und zwar schon immer, und denen widmet das Stadtmuseum jetzt eine Ausstellung, die sich vorrangig um die aus Wolfsburg stammende Musik dreht. Ein hochnotwichtiger Blick auf die Stadt, nicht nur für die Protagonisten, sondern auch sowohl für deren angepasste Bewohner als auch für Nichtwolfsburger, denn er zeigt ein Wolfsburg, das unter der polierten Oberfläche einen ganz eigenen Glanz abstrahlt.
Zur Eröffnung im Gartensaal des Schlosses (das Stadtmuseum ist in den Remisen des Schlosses eingerichtet) fanden sich dann auch erfreulich viele dieser Protagonisten der porträtierten Szenen ein. Fast wirkte es, als sei die Einladung zu dieser Veranstaltung eine Aufforderung gewesen, sich nach Jahren einmal wiederzusehen oder endlich längst überfällige Kontakte neu zu knüpfen. Man erblickte die Gesichter vieler Lokalhelden, aus Bands wie Heavens Gate, Halle 54, Die Weltenretter, Cryptic Brood, von Einrichtungen wie dem Sauna-Klub, dem Kulturzentrum Hallenbad oder der Musikschule, oder von Veranstaltungen wie der Jembker-Hof-Revival-Party. Die Altersspanne umfasste gesetzte Bürger, die sicherlich Fans der Lumpis gewesen sein können, bis hin zu jungen Leuten, die heute im Jugendhaus Ost aktiv sind. Sie alle finden sich in der Ausstellung wieder, und sie alle trugen etwas zu deren Umfang bei. Und das war überraschenderweise dringend notwendig.
Denn, so berichtete Initiator Axel Bosse, zu Beginn der Konzeption entdeckte Kurator Dr. Arne Steinert im Archiv des Stadtmuseums lediglich zwei uralte Plakate, die zum Thema passten. Wobei „lediglich“ das falsche Wort ist: So altes Material aus den Sechzigern und Siebzigern ist selbst in der Bevölkerung selten zu finden, weil die Erinnerungskultur und damit das Sammeln erst später einsetzten, insofern waren diese Plakate bereits ein guter Anfang. Doch sobald die Nachricht von dem Vorhaben dieser Ausstellung in die Öffentlichkeit drang, drang die Öffentlichkeit zu Dr. Steinert vor und brachte allerlei Devotionalien mit, Konzertkarten lokaler und internationaler Künstler, Schallplatten, CDs und Kassetten aus den vergangenen 50 Jahren, Konzertplakate, Flyer, Fotos, die Siegergitarre vom Beatfestival, eine Goldene Schallplatte von Avantasia, Bücher von Wolfgang Müller, ein T-Shirt und eine beschriebene Radkappe von Halle 54, Interviewfilme, Hörbeispiele, Programmhefte vom Open Arsch – ein Riesenfundus zum Stöbern, Erinnern, Entdecken, die eigene Sammlung Abgleichen.
Naturgemäß ist diese Sammlung unvollständig, denn trotz der vergleichbar kleinen und somit beinahe übersichtlichen Zahl an Bands in einer Stadt dieser Größenordnung sind es immer noch viel zu viele für 100 Quadratmeter Ausstellungsfläche. Aus diesem Grund ersann Dr. Steinert einen geschickten Kniff und strukturierte die Ausstellung nicht nach Protagonisten, sondern nach Orten. Waren zunächst ein gutes Dutzend angedacht, mit Plattenläden, Studios, Bühnen und mehr, zeigt der Stadtplan nun mindestens 42 Markierungen. Von diesen Punkten aus benennt die Schau selbstredend auch Personen, aber entsprechend dezidiert ausgewählte; an dieser Stelle wäre die Vitrine mit den aus Platzgründen nicht berücksichtigten Exponaten sehr spannend. Dennoch, im Museum findet sich ein Ortsspektrum von Beat- und Folkkonzerten, Punk- und Metalevents, Hip-Hop- und Rapstudios, von den Schloss- und Fuzo-Konzerten, den Jugendzentren, der Commode 2000, dem Onkel Max, dem Hotel Noack, dem Kaschpa bis zur Schweineweide in Rümmer und dem Jembker Hof, die beide außerhalb Wolfsburgs liegen und trotzdem für die Bewohner der Stadt wichtig waren. Und sind!
Ja, Wolfsburg hat eine Subkultur, einen Untergrund, eine Szene, nein: viele Szenen und noch mehr kreative Menschen, die sich nicht dem Radioformat oder sonstigen Vorgaben unterordnen wollen. Zwar haben sie, anders als vergleichbare Industriestädte wie Sheffield oder Detroit, keine Musikgenres in die Welt erfunden, die eindeutig auf Wolfsburg zurückzuführen sind, sich aber dennoch mit der Stadt auseinandergesetzt, mit Volkswagen, der Zonenrandlage und der Schichttaktung. Sie fanden ihre Ausdrucksformen in Beat, Folk, Metal, Punk und Hip Hop und traten mit ihren Arbeiten bisweilen sogar weit über die Stadtgrenzen hinaus in Erscheinung, wie etwa Oomph! oder Sascha Paeth.
Da ist es wichtig, dieser gleichgeschalteten Stadt auf diesem Wege zu verdeutlichen, dass ein praktiziertes Standardleben keine Allgemeingültigkeit hat, dass Menschen mit alternativen Lebensentwürfen sehr wohl in dieser Stadt existieren und dass nichtformatierte Kultur nicht nur ebenfalls in Wolfsburg konsumiert wird, sondern auch produziert. Neugierige und Wissende können sich im Stadtmuseum ein Bild davon machen, dass Kulturgüter, die im aalglatten Mainstream keinen Platz finden, sehr wohl glänzen können, und wenn nicht für sie, dann bestimmt für den Nachbarn, und das zu erkennen und zu akzeptieren ist sehr viel wert.
Und da setzt mein persönlicher Blickwinkel an. Es war 1993 eine Erleichterung, als ich nach erstem Ablehnungsschock von solch obskuren Aktivitäten wie dem Open Arsch und der Band Die Trottelkacker erfuhr, als zur Veröffentlichung des Albums „Wunschkind“ von Oomph! noch als Metal-Band die Rede war, als Leute von Heavens Gate beim WOB Open am Schloss mitpicknickten, als ich mit Musikern von The And und Wasteland die Berufsschulbank drückte, als ich im Café Schrill und im CongressPark den begnadeten Entertainer Granato Rambocco erleben durfte, als ich fürs Indigo-Magazin unter Ex-Protector- und damals noch Headshot-Gitarrist Matze Grün Interviews und Reviews mit Grass Harp, Die letzten Kavaliere und Very Wicked machte, als ich später noch Dissouled, Revolt, Kinnara, Purgamentum, John Doe, Cryptic Brood, Die Weltenretter, Sascha Paeth, Cinzia Rizzo, TEQ, Nizza, Swansick, Baltasar Buxe sowie die Jembker-Hof-DJs Olli und Hansi, das Label Kernkraftritter Records, Wolfsburgs-finest-Blogger Torsten Schitting und die Betreiber von Hallenbad, Sauna-Klub und Schlachthaus kennenlernen durfte. Ich erinnere mich an Circle Pits im Juze Ehmen, an Peter Maffay mit der Harley auf der Bühne im Kraftwerk, an Grass Harp und Into The Abbyss im Kaschpa, an das Vollplaybacktheater und Die Ärzte im CongressPark, an Akuter Kackreiz als eine von einem guten Dutzend Bands beim Trottelkacker-Tribute sowie das AAA-Festival von Chrisz Meier im Kino des Kulturzentrums Hallenbad, an die Simple Minds in der Autostadt, an Geschichten von den Hulischen Festtagen in Velpke unter anderem mit Blähtin, der seine Lieder live auf der Schreibmaschine schrieb, an Der Weg einer Freiheit im Jugendhaus Ost sowie dessen 40. Geburtstag, an chaotische Konzerte beim Open Arsch in Rümmer, an ein Interview mit Max Müller von Mutter und den Honkas und an das eruptiv rockende Mutter-Konzert vor nur 20 Leuten im eingeschneiten Kulturzentrum Hallenbad, an ein signiertes Exemplar einer Single der Wolfsburger Italopopband Napsi. Die Liste kann nur unvollständig sein, ebenso wie die Ausstellung im Stadtmuseum (die es den Besuchern ermöglicht, per Zettel Lücken zu benennen), und doch steckt da jedes nur mögliche Herzblut drin.
Ja, definitiv, es gibt eine Subkultur in Wolfsburg, nicht nur in der Historie, die das Stadtmuseum liebevoll und voller Begeisterung einfängt, sondern auch jetzt und morgen, und diese Subkultur hat etwas zum Stadtleben beizutragen, das umso weniger abgekoppelt stünde, öffnete sich der Rest der Stadt für sie, was – das muss ich erfreut hinzufügen – in den zurückliegenden Jahren wahrnehmbar erfolgt ist, und das Stadtmuseum macht einen unterstützenswerten Schritt dahin. An dem ich – darüber bin ich dankbar und ein bisschen stolz – teilhaben darf, mit Texten, Fotos, Exponaten, und manchmal sogar versteckt, das Bandfoto von Cryptic Brood in der „Braineater“-CD und das Foto von Very Wicked im VW-Tunnel etwa sind von mir. Mir ist die Subkultur von Wolfsburg wichtig und ans Herz gewachsen, deshalb hat diese Ausstellung eine sehr hohe persönliche Relevanz. Jetzt fehlt nur noch ein Jam mit den präsentierten Musikern. Das wäre ein Fest!