Von Onkel Rosebud (20.10.203)
Einer regelmäßigen Tradition folgend wird sich bei uns nach Schichtschluss zur Gruppe formiert, ins Auto gesetzt und dann geht es ab in die historische Hauptstadt Böhmens. Der erste Haltepunkt so eines Kurzausrittes ist immer ein Hostinec, um einheimische Spezialitäten einzunehmen. Dieses Mal wählten wir das Pivnice U Sadu in Vinohrady, Prag 3, ein Ort, der für sein Pissoir ähnlich legendär ist, wie die nächste Haltestelle, der Veranstaltungsort Lucerna-Palast. Das ist ein Vergnügungskomplex am Wenzelsplatz, der – wenn es nach dem Willen des Vaters von Václav Havel gegangen wäre – eigentlich ein Eishockey-Stadion geworden wäre. Nachdem sich zu Beginn der Bauarbeiten herausgestellt hatte, dass die Halle für diesen Zweck nicht geeignet war, wurde sie zu einem großen Ballsaal umgeplant. Und wir hatten uns in Schale geschmissen, um in eben dem Polly Jean Harvey aus der südwestenglischen Grafschaft Dorset darbieten zu sehen.
Vor knapp 30 Jahren habe ich PJ Harvey schon mal live gesehen. Alternative Stage, Glastonbury, 1994. Das war in ihrer Phase als Solokünstlerin mit den ersten drei Alben „Dry“ (1991), „Rid Of Me“ und „4-Track Demos“ (1993) im Gepäck. Damals sah ich eine wütende, spindeldürre Frau mit großem Kopf in dunklem Gewand, die eine Gitarre malträtierte und mir mit dem Vortrag des Songs „Rub ‚till It Bleeds“ irgendwie Angst machte. Damals war Riot-Grrrl-Power angesagt und mir nicht ganz verständlich. Aber die Mädchen kreischten auch bei Jarvis Cocker, Damon Albarn, Bobby Gillespie und Konsorten, mit denen ich wesentlich mehr anfangen konnte. Neben Singen, Songschreiben, Lebensgefährtin von Nick Cave sein und diversen Gastauftritten (u.a. bei Radiohead, Mark Lanegan, Marianne Faithfull), versuchte sich PJ Harvey im Laufe der Jahre auch erfolgreich als Lyrikerin, Schauspielerin und Bildhauerin. Nach längerer Schaffenspause kam dieses Jahr das Album „I Inside The Old Year Dying” wieder mit Band heraus, welches komplett den ersten Block des Konzertes ausmacht. Bei der auf der dunklen Seite des Folk beheimateten Musik muss man gut ausgeschlafen sein. Ich bin es nicht. PJ besingt Buche und Aller, Eiche und Birke, Weide, Espe, Holunder, Lärche – und ruft dann plötzlich Elvis an. In den quälend langen Umbau- und Instrumentenwechselpausen tönt Vogelgezwitscher aus der Konserve. Sie konnte schon immer gut mit Vögeln. Ich sehe eine wunderliche, spindeldürre Frau mit großem Kopf im hellen Gewand, die über die Bühne mäandert.
Nachdem die Band mit dem unvermeidlichen John Parish eine Solonummer schieben darf, ist das zweite Set des Abends mit „Oldies“ überschrieben. Und ich bin wieder voll da bei Songs wie „The Words That Maketh Murder“, „Send His Love To Me“, „Dress“ und meinem Lieblingslied „Down By The Water“. Ihre Stimme ist eben doch ein Instrument außer Konkurrenz. Und 25 Songs in reichlich anderthalb Stunden muss man erst einmal vortragen können.
Um 1 hing die Hose kalt am Bett.
Onkel Rosebud