Von Matthias Bosenick (21.10.2019)
Und über allem schwebte der Geist von Knotke. Der Schlagzeuger der Trottelkacker verstarb im vergangenen Jahr, und da Die Trottelkacker in den Neunzigern die maßgeblich für das Open Arsch verantwortliche Band waren, bezogen sich viele der an diesem Festivalrevival beteiligten Musiker auf diese Größe der Velpker Subkultur. Schlagzeuger Paul, mit gleich zwei Bands eine Klammer um alle Auftretenden bildend, organisierte dieses Klassentreffen, aus Altersgründen jedoch nicht in Rümmer auf der Schweineweide wie noch vor 20 Jahren, sondern im Kino des Kulturzentrums Hallenbad, also im einstigen Kaschpa, was ja auch passt. Acht Bands mit direktem Open-Arsch-Bezug machten an dem Abend den größten Unterschied zu damals deutlich: Seit den Neunzigern lernten sie alle, ihre Instrumente zu beherrschen und noch grandiosere Songs zu komponieren und zu arrangieren als damals, als sie alle noch Amateure waren. Open-Arsch-Momente gab es dennoch zahllose. Gabuze!
Den Auftakt machte ein Feueralarm: Weil in der Küche des Hallenbads heißer gekocht als im angeschlossenen Restaurant Loop gegessen wurde, mussten um Punkt 20 Uhr die Gäste des Open Arsch (Closed) und der Parallelveranstaltung Jazz im Pool geschlossen vor die hernach geschlossene Tür treten. Da war er dann auch schon, der erste Open-Arsch-Moment: Es regnete, das Bier reichte nicht aus und der Auftakt-Act war zwar einfallsreich, überzog seine einzige Idee aber maßlos. Eine halbe Stunde lang hatten die euphorisierten Gäste nun also die Gelegenheit, sich draußen gegenseitig wiederzuerkennen und über Erinnerungen an die zehn Jahre auszutauschen, in denen das Open Arsch bis vor 20 Jahren auf der Rümmerschen Schweineweide mit „Kot & Wahn & Sock’n’Roll“ so manche Biografie in andere Bahnen lenkte. Das gleichnamige Begleitprogramm übrigens, geübt dilettantisch zusammenkopiert von Friedhelm Nesselhag, war auch bei diesem Revival wieder erhältlich.
Mit einer halben Stunde Verzug, also deutlich pünktlicher als früher, kündigte Conférencier Fritz den ersten Höhepunkt an, einen Höhepunk geradezu: Akuter Kackreiz entschlossen sich kurzerhand, den zunächst gewählten Alibinamen Krötenkeller Revisited zu streichen, weil der Original-Bassist an dieser Reunion nicht teilnehmen konnte. Für ihn wechselte Gitarrist Micha die Saitenzahl und fügte sich in einen Kontext ein, der ihm unter anderem wegen Gitarrist Phil personell ohnehin vertraut war, aus Kackreiz-Nachfolgebands wie The And und John Doe etwa. Sänger Nukel waren weder seine jahrzehntelange Bühnenabstinenz noch seine daraus resultierende Nervosität anzumerken: Routiniert beschimpfte er das Publikum, das sich im Handumdrehen zu Hause fühlte, und brüllte eigene und gecoverte Punkrocknummern in den kochenden Saal. Als einzige Band wagten es Akuter Kackreiz überdies, Die Trottelkacker nachzuspielen: „FKK-Urlaub“ war der erste Gruß an Knotke, der bei fast allen folgenden Auftretenden Erwähnung und Erinnerung fand, einmal eine Schweigeminute gar. Abschließend richteten Nukel und Schlagzeuger Paul einen anderen Gruß nach rechtsaußen: Sie entblößten ihre Gesäße und gaben damit sowohl dem Namen des Festivals eine zweite Bedeutung als auch den Blick frei auf die schwarze Aufschrift „Nazis raus“, die sich über beide Hinterteile erstreckte. Châ-, äh, -peau! Als Krönung gab’s für die eigentlich nicht für weitere Aktivitäten vorgesehene Band sofort das Angebot für ein Folgeengagement im Sauna-Klub im nächsten Jahr. So geht das.
[Edit] Den Namen „Krötenkeller Revisited“ vergab Paul in der Ankündigung, um den Effekt zu verstärken, wenn stattdessen Akuter Kackreiz auf die Bühne kommen. Und „FKK-Urlaub“ stammt noch aus der Zeit, bevor Knotke bei den Trottelkackern das Schlagzeug bediente.
Einen der musikalisch anspruchsvollsten Auftritte des Abends legten danach Lump vor. Wenn man seinen Gitarristen keine Melodien spielen, sondern mit an Sonic Youth erprobten und punktgenau gesetzten Effekten den Rhythmus begleiten lässt, schiebt man seinen Indierock erheblich in Richtung Avantgarde. Wenn man dann noch mit Roland Kremer einen Theatermenschen als Sänger, Keyboardspieler und Trompeter nach vorn stellt und man mit Bass und Schlagzeug dazu fette Rocksongs generiert, liegt man qualitativ sehr weit über dem, was man seinerzeit beim Open Arsch vergötterte. Und wenn man dann auch noch mit allem zusammen dergestalt in der Lage ist, mordsmäßig zu grooven, bleibt kein Wunsch unerfüllt. Und dabei waren alle vier Musiker auch noch so gutgelaunt! Grandios!
Es war für manche Zuschauer womöglich zu befürchten, dass der anschließende Auftritt eines Soloakustikgitarristen die Stimmung herunterziehen würde. Singer-Songwriter mit Klampfe, das konnte ja kein Punkrock sein. Pustekuchen, wir sprechen hier vom Open Arsch! Und von Waterman, von dem es zu aktiven Open-Arsch-Zeiten hieß, er und seine Band habe nur einmal im Jahr geprobt, und zwar auf dem Open Arsch, und das traf auch zu. Nur war beim Revival nicht von der Band zu sprechen: Schlagzeuger Krusty, Gitarrist Heyl und Sänger Sven waren vom traditionellen Prozedere abgewichen und hatten sich bereits vorab zur Probe getroffen, bei der sie jedoch festgestellt hatten, dass die Ideen von der Ausrichtung des Programms zu unterschiedlich gewesen waren, um den Abend gemeinsam zu bestreiten. Also behielten sich die Musiker vor, ein öffentliches Miteinandermusizieren auf ein potentielles nächstes Mal zu vertagen, und machten aus Waterman eben ein Soloprogramm. Und während man noch unbedarft fürchtete, dass man sich wohl nun die ungelenken Ergüsse eines Möchtegernminnesängers im historischen Meinkot-Fußballtrikot anzuhören hätte, grölte der Saal längst die Texte mit, inklusive der beiden eigentlichen Mitmusiker. Waterman war und ist einfach eine Institution. Selbstironisch und sarkastisch trug er seine Lieder vor, kommentierte die Texte und die Songlängen, wertete sein eigenes Wirken ab. Bis ihm mitten in einem jüngeren Lied die Textblätter vom Notenständer rutschten und er frei darüber improvisierte, dass Organisator Paul aus der ersten Reihe heraus versuchte, Ordnung in das Chaos zu bringen. Paul legte ihm nach kurzer Suche einen einzelnen Liedtext vor die Nase – und Waterman war erstaunt: Er fasse Pauls ausgewählten Text als Signal auf, sagte er pikiert grinsend, denn der Titel lautete „Vorzeitiges Ende“. Das Lied spielte er noch und setzte es dann in die Tat um. Unter rauschendem Applaus. Hätte man nicht scripten können.
Den folgenden Auftritt von Krüger erwarteten viele Besucher mit großer Spannung. Krüger war Mitglied der Trottelkacker gewesen und hatte sich mit seinen Soloalben eine große Fanschar erarbeitet. Seine Lieder hatte er über die Jahre vom Post-Kacker-Kalauer zum Indierock mit großer Geste und mit nicht nur latent melancholischer Ausrichtung entwickelt. Die Spannung stieg: Wie würde der Mann sein Oeuvre umsetzen? Von einer Begleitband war nämlich zuletzt nichts zu hören, nicht nur, weil er solo ohnehin seit gefühlten Ewigkeiten nicht mehr auf der Bühne gestanden hatte, auch die jüngeren Alben hatte Krüger nahezu allein eingespielt. Überraschung: Gleich der als nächster vorgesehene Act im Line-Up begleitete den Gitarristen und Sänger, also „Krüger plus Die Müller-Verschwörung minus Roland Kremer“, wie der Sänger bemerkte. Also der erste gemeinsame Auftritt von Krüger und Müller abseits von Grass Harp seit dem Trottelkacker-Tribute vor zehn Jahren, an selber Stelle. Das konnte doch nur bedeuten, dass sie auf Kackerklassiker zurückgreifen würden! Doch weit gefehlt, aus Respekt vor Knotke entschlossen sich Müller und Krüger, Die Trottelkacker ohne ihren dritten Mann unangetastet zu lassen. Dafür gab es Songs aus Krügers jüngerem Oeuvre, von „Wo ist der Knopf“ über „Gütersloh“ und „Schweben“ bis „Stuhl“. Schlagzeuger Olli, Bassist Meier und Gitarrist Müller übernahmen Krügers Kompositionen, aber da sie allesamt selbst grandiose Künstler an ihren Instrumenten sind, transferierten sie die Songs in ihr eigenes musikalisches Können und führten die ohnehin schon weitgreifenden Indierocklieder in Sphären, die meilenweit über das alte Open-Arsch-Niveau hinausragten. Große Gesten, fette Sounds, metallische Härte, vertrackte Strukturen, harmonische Melodien: Krügers Gig war gleichzeitig große Kunst und alle einnehmend. Ebenfalls grandios!
Krüger und Lump-Musiker Kremer tauschten nun also die Plätze, damit übernahm folglich Die Müller-Verschwörung die Bühne. Seit der namensgebende Bandchef vor einiger Zeit in die zweite Reihe getreten war, hatte sich auch die Ausrichtung der früheren Müller & die Platemeiercombo geändert: Mehr Kunst, mehr Vaudeville, einfachere textliche Strukturen, mehr Parolen bei gleichbleibender Tanzbarkeit und Ambivalenz. Müllers häufig an Fünfzigerrhythmen gelehnte Rockmusik lässt seit jeher die Zuschauer wahlweise bierholen oder tanzen gehen, wenn sie nicht einfach lächelnd dastehen und Text und Sound genießen. So füllten sich sowohl die Theke als auch der Bereich vor der Bühne mit Menschen unterschiedlicher Interessenlage, und wer vernünftigerweise lieber der Musik folgte, erhielt die neuesten Songs aus Müllers Feder kredenzt. Und wie seit jeher gilt auch für die Verschwörerlieder, dass man sie schon nach dem zweiten Mal live gehört haben als Ohrwurm hat und beim dritten Mal mitsingen kann. Müller hat ein Händchen für eingängige Songs, die dem Hörer quasi hinterrücks Inhalte ins Bewusstsein mogeln. Mit „Sein Spiel“ brachte die Verschwörung dabei lediglich ein einziges Lied aus der Platemeier-Zeit, vom letzten Album „Castafiore“. Auch für Müllers Musik gilt, dass sie seit Jahrzehnten das Open-Arsch-Niveau hinter sich gelassen hat und in Sachen Struktur, Arrangement und spielerischer Finesse zu Höherem berufen ist, und zwar zu einem Höheren, zu dem es sich vortrefflich gleichzeitig tanzen, rocken und nachdenken lässt. Letztlich ist die Entwicklung von Krüger und Müller keine Überraschung: Bereits bei den Trottelkackern sind die Anlagen für großes Kino mehr als deutlich wahrnehmbar.
Zu den wenigen nicht in anderen Bands aufgegangenen Open-Arsch-Veteranen des Abends gehören Kaltmiete, die – so ließ es Sänger Heinrich mutmaßen – seinerzeit überhaupt nur eigens für das Festival zusammengekommen waren und hernach deutschsprachige Indierocksongs komponiert hatten, die ebenfalls das Niveau der Schweineweide zurückgelassen hatten. Vertrackte Stop-And-Go-Rhythmen und eine bisweilen nicht nur latente Heavyness versetzt mit eingängigen Melodien zeichnen das einzigartige Oeuvre von Kaltmiete aus. Umso ernüchternder war dann das Programm, das das Trio an diesem Abend spielte: Schleppend langsame Lieder, die vielmehr Vehikel für Inhalte waren, auf die Heinrich Wert legte; mit Recht immerhin, denn auf die ihm eigene indirekte Art prangerte er alles zwischen Kapitalismus und Faschismus an. Zwischen den Songs kommentierte er die Inhalte und erzählte aus der Band- und Open-Arsch-Historie. Für einige Zuschauer war der Auftritt von Kaltmiete bis dahin trotz kleiner Pyroeinlage ein eher langweilender Tiefpunkt des Abends: Sie verzogen sich, gingen rauchen, holten sich Getränke, verschwanden in die gekachelten Nebenräume. Nach zwei Dritteln des Sets ließ Heinrich aber die Verbliebenen wissen, dass genau dies, also die Fokussierung auf Inhalte, auch Absicht gewesen war, und dass das nächste Stück die Stimmung noch weiter herunterziehen würde. Um dann mit „Der fette MC hat mein Leben zerstört“ und „Geesthacht“ zwei Open-Arsch-Klassiker auf die nun wieder versöhnte Menge niederprasseln zu lassen. Damit holte die Band den Schwung in den Saal zurück für die letzten beiden Acts – und lieferten bei Lichte besehen einen sehr eigenen und sogar sehr denkwürdigen Open-Arsch-Moment, mit bewusst enttäuschten Erwartungen, Anti-Haltung, politischen Botschaften und einer in Richtung Hardcore weitergedachten Variante von Punkrock. Überzeugend!
Tiefste Spuren in der Wolfsburger Punk- und Rock-Historie hatten die drei Gründungsmitglieder von Van Damned, Heuer, Krehfeld und Borawski, seit den Achtzigern hinterlassen, mit Bands wie Uppercut, Die letzten Kavaliere, Die Weltenretter, Mandrill, Hellfish, Heavens Gate, Steeltower, The Gee Suz Batteries, Inzest, Peacemaker, Ceeperhead und diversen mehr. Erst kürzlich hatten sich Van Damned mit dem halbsoalten Härtel zusammentaten, Sänger der Metalband Painted. Seine klare Stimme setzte einen Kontrapunkt zu der rauhen Rockmusik, die klar auf dem Blues fußte und die Einflüsse der Granden des Siebzigerrocks nicht nur nicht verleugnete, sondern zelebrierte und zu etwas Eigenem formte. Der grandiose Spielspaß der Band äußerte sich in launigen Ansagen und in beinahe beiläufig wirkenden Expertisen an den Instrumenten. Mit der Flasche Bier geslidete E-Gitarren gehören jedenfalls nicht zum Bühnenalltag, und auch wenn Härtel augenzwinkernd betonte, dass Van Damned „übrigens keinen Punk“ machten, trug Borawskis scheinbar leichtfüßige und leicht flüssige Einlage definitiv klassische Open-Arsch-Züge. Rock’n’Roll!
Zum Abschluss kehrte Paul, der unter seiner Hose wohl noch immer das Wort „Nazis“ auf dem Hintern stehen hatte, für Amy Baker auf den Schlagzeugschemel zurück. Um die fünf Stunden Livemusik steckten bereits in den Knochen der Zuschauer, und viele senkten ihre in die Jahre gekommenen Glieder ermüdet auf die umliegenden Sitzmöbel. Bis die ersten Töne erklangen. Auch bei Amy Baker spielen erprobte Wolfsburger Mucker mit: Killerhaase, Doc Tobi und Paul hatten die Band nach der Auflösung der Weltenretter gegründet. Als zweiten Gitarristen holten sie sich David dazu, als Sängerin Ani – und als Oeuvre die Hits der Achtziger sowie deren Vorlagen aus den Fünfzigern und Sechzigern, garniert mit dem Schrott der Neunziger. Korrekt: Spätestens, als Depeche Mode auf Speedpunk den Gig eröffneten, war sämtliche Müdigkeit aus den alten Zuschauerknochen verschwunden. Wer nicht den Moshpit vor der Bühne befeuerte, stand mit offenem Mund staunend da. Genesis, Gloria Jones (also Soft Cell), Elvis (also Dead Kennedys und Pet Shop Boys), The Proclaimers, Belinda Carlisle, Eurodance: Für Amy Baker gab es keine geschmacklichen Grenzen und in der Neubearbeitung auch keinen Grund für das Publikum, solche zu ziehen. Dabei spielte das Quintett die Hits nicht einfach nur nach, sondern unterzog sie Neuarrangements und verändert gegebenenfalls das Tempo. Als wäre das nicht schon geil genug, überzeugten die Musiker auch noch spielerisch: Hätten Amy Baker die Rechte an den Songs und veröffentlichten sie als Album, wäre ihnen eine sehr, sehr hohe Aufmerksamkeit sicher. Maschine Paul trieb die Stücke vom Bass begleitet voran, die Gitarren drückten Härte und Verspieltheit in den Sound – kein Wunder, dass die Meute herumhüpfte und wild zappelte. Ein amtliches Brett! Also ebenfalls weit über den Rümmerschen Weidezaun hinausragend. Auch dies grandios!
Mittlerweile war es spät in der Nacht und das Publikum erschöpft, aber glücklich. Zehn Jahre nach dem Trottelkacker-Tribute, fünf Jahre nach Chrisz Meiers Werkschau „AAA – Anders als alle“ sowie im selben Jahr wie das von Torsten Schitting organisierte Abschlusskonzert zur Ausstellung „Soundtrack WOB“ war dies der nächste Höhepunkt im Feiern der Wolfsburger Subkultur. Und ja, Wolfsburg hat eine Subkultur, und in Wolfsburg ist die Dankbarkeit dafür, dass Ereignisse wie das Open Arsch (Closed) stattfinden, riesengroß. Deshalb auch hier: Danke, Paul! In zehn Jahren wieder? Bis dahin sollten wir uns halbwegs erholt haben.