Mordsgeschichten auf der Oker – Lesung mit Hardy Crueger am 05. August 2022 – Eine Nachlese

Von Guido Dörheide (05.08.2022)

Vor vielen Wochen haben wir an dieser Stelle über den anstehenden Beginn der diesjährigen „Mordsgeschichten auf der Oker“-Saison berichtet. Da es sämtlichen Regeln der Redlichkeitskultur zuwiderläuft, über etwas zu berichten, das man noch nie miterlebt hat, habe ich mich einem Selbstversuch unterzogen und mittels empirischer Studie herauszufinden versucht, ob sich eine Teilnahme an dieser Veranstaltungsreihe lohnt. Für das Experiment habe ich mir den Termin am Freitag, den 05. August, mit Hardy Crueger, dessen Werk ich ansatzweise kenne und begeistert feiere, ausgeguckt und bei einer lieben Freundin um Unterstützung angefragt, die am Freitag bereits mit ihrer besten Freundin verabredet war und diese kurzerhand zum Mitkommen bewegen konnte, worüber ich mich unheimlich gefreut habe.

Das Wetter hat ein Einsehen, nachdem sich die Wolken im Laufe des Vormittages komplett leergeregnet haben, startet das Floß unterhalb der Brücke am JFK-Platz pünktlich bei bestem Wetter und angenehmen Temperaturen. Michel [von Such A Surge, d. Red], der sympathische Kapitän, manövriert das Floß in die vom Autor geheißene Richtung und dann beginnt Hardy Crueger auch schon mit dem Vortrag. Ohne großes Brimborium und dadurch umso eindrucksvoller liest der Autor vier seiner Kurzgeschichten vor – passend zur Örtlichkeit stammen zwei davon aus seinem Kurzgeschichtenband „Okergeschichten“, eine aus dem Nachfolger „Okergeschichten Teil II“ und eine ist bisher unveröffentlicht. Sie trägt den Titel „Freiwild“ und erscheint am 3. Oktober dieses Jahres in dem gemeinsam mit Till Burgwächter verfassten True-Crime-Geschichtenband „Braunschweig’sche Verbrechen“ (mehr Infos direkt beim Verlag unter https://www.verlag-reiffer.de/produkt/braunschweigsche_verbrechen/).

Während das Floß auf die ehemalige Okercabana zuhält, liest Hardy Crueger „Die Brücke an der Okercabana“ (aus „Okergeschichten“), die locker und mit hoher Geschwindigkeit erzählte Geschichte zweier Mädchen, die unter Zuhilfenahme weingeisthaltiger Erfrischungen mit einem Tretboot eine Okerfahrt unternehmen, die ob einer nicht enden wollenden Kette gemeinsam begangener Ordnungswidrigkeiten auf dem nächsten Polizeirevier endet. Die erwähnte Geschwindigkeit bezieht sich dabei auf den Handlungsablauf, nicht auf den Vortrag des Schriftstellers. Crueger liest bedächtig und in einer staubtrockenen Art, die dem Erzählten gut zu Gesicht steht, tritt gewissermaßen hinter dem Werk, das durchaus für sich zu sprechen imstande ist, zurück und sorgt dabei immer wieder für spontanes Lachen, wenn er die Stimmen der beiden 14- und 15jährigen jungen Damen imitiert. Die Geschichte basiert auf einer Meldung aus der Braunschweiger Zeitung vom 04.06.2009, hat also so oder so ähnlich tatsächlich stattgefunden. Und Thelma und Louise sind inzwischen locker 27 und 28 und haben ihr Leben hoffentlich im Griff behalten.

In den buchwechselbedingten Pausen unterhält Michel – auch er ein talentierter Entertainer – die Floßgäste mit Anekdoten aus seiner langen Erfahrung als Okerkapitän. „Wenn es dunkel wird, schaue ich nach oben. Wo keine Baumkronen sind, da ist die Oker“ weiß er die Sicherheitsbedenken der Passagiere im Hinblick auf die Rückfahrt professionell zu zerstreuen.

Die nächste Geschichte – „Schwanensee“ aus „Okergeschichten II“ – beinhaltet den Portikus im Bürgerpark, an dem das Floß während der Geschichte vorbeigleitet, und das Steigenberger Parkhotel, auf das das Floß während der Geschichte annähernd zugleitet. Sie ist nicht komisch, dafür um einiges gruseliger als „Die Brücke…“ und teilweise sogar verstörend. Crueger erzählt die Geschichte aus der Sicht eines Verbrechers, der von einem dunklen Trieb übermannt wird, und als Zuhörer/-in fragt man sich (oder will es auch gar nicht genauer wissen), wie es jemand schafft, sich in eine solche Person hineinzuversetzen. Die Geschichte ist fiktiv, die Hauptfigur ist jedoch an Peter Kürten, der im Jahr 1931 als „Der Vampir von Düsseldorf“ mit dem Fallbeil hingerichtet wurde, angelehnt.

Die wie erwähnt noch unveröffentlichte Geschichte „Freiwild“ handelt von einer jungen Frau, die auf dem Rückweg aus der Disco einem Gewaltverbrechen nur knapp entgeht – in der kurzen Geschichte werden die Lesenden zunächst gekonnt auf eine falsche Fährte gelockt und dann in Angst um die Protagonistin versetzt, um am Ende der Geschichte zu erfahren, dass sie vor nicht langer Zeit tatsächlich am Schauplatz der Erzählung in ähnlicher Weise stattgefunden hat. Das alles beschreibt Hardy Crueger nicht sensationslüstern, sondern mit viel Einfühlungsvermögen und Sympathie gegenüber dem Beinahe-Verbrechensopfer. Der Titel der Geschichte lässt auf der einen Seite einen Rückschluss auf das Frauenbild des Täters zu und zeigt auf der anderen Seite, wie das Fast-Opfer sich gefühlt haben muss.

Am Ende liest Crueger eine fiktive Geschichte mit viel Gruseleffekt und einer überraschenden und überaus tragischen Pointe: „Das Mädchen am Ufer“ aus „Okergeschichten“. Hier tritt er wieder als Stimmenimitator in Erscheinung und sorgt damit für Gänsehaut bei den Passagieren. Unterstützt wird das durch die beginnende Dunkelheit, Crueger liest nun mithilfe einer Stirnlampe, die sein Gesicht in ein unheimliches Licht taucht, und jedes Mal, wenn das Floß unter einer der zahlreichen Brücken hindurchfährt, wirft ein geisterhaft anmutendes Echo die Stimme des Autors zurück. Und dieses Echo ist jedes Mal überraschend laut – und trägt dadurch erst so charakteristisch zur Atmosphäre der Lesung bei.

Die Zeit ist schnell vergangen und wir müssen schon wieder von Bord. Wie immer bei den Geschichten von Hardy Crueger bleibt die Verwunderung der/des Rezipierenden zurück, wie viel Handlung und einfühlsame Charakterstudie sich auf wenigen Seiten unterbringen lässt. Sozusagen hochverdichtete Literatur, nachhaltig und ressourcenschonend. Wo andere Autor:innen einen ganzen Wald fällen, um die Handlung aufs Papier zu bekommen, genügt Hardy Crueger eine umgefallene Trauerweide am Ufer der Oker, die Mutter Natur freiwillig hergegeben hat.

Meine beiden wunderbaren Mitstreiterinnen und ich haben anschließend zunächst mit dem Autor und dann noch zu dritt bei einem späten Abendessen im östlichen Ringgebiet lange das Vorgetragene quasi noch einmal Paroli laufen gelassen, und waren sowohl erstaunt als auch begeistert, welche unterschiedlichen Empfindungen die von Crueger eingenommenen unterschiedlichen Erzählperspektiven bei weiblichen und männlichen Zuhörenden/Lesenden hervorrufen. Und wie verstörend es sein kann, wenn durch das Einnehmen der Täterperspektive dessen abwertendes und menschenverachtendes Frauenbild schonungslos offengelegt und an den Pranger gestellt wird.

Es war ein ganz wunderbarer Abend (danke dafür!), dazu noch mit toller Literatur, einem faszinierenden Literaten und einer routiniert und überaus angenehm durchgeführten Floßfahrt. Die Veranstaltungsreihe läuft noch bis zum 01. Oktober (Termine, Autoren und Reservierung unter https://www.okertour.de/klassiker/reservierung-mordsgeschichten-auf-der-oker#).