Von Guido Dörheide (12.07.2024)
Wenn die Autostadt im Rahmen ihres „Sommerfestival 2024“ ein Konzert mit exzellent gemachter und mitreißender Tanzmusik organisiert, ist selbst das Wetter professionell eingetaktet und gescheduled: Mit einer gut gelaunten Reisegruppe aus zwei Wolfsburger:innen, einer Braunschweigerin, einem Hamburger und einem Clausthal-Zellerfelder suchen wir uns einen Parkplatz, bahnen uns den Weg aufs Autostadtgelände und stellen uns in die endlos lange Schlange am Bierstand, um dann, eine halbe Stunde später, nachdem die vor uns Wartenden ihre Getränke erhalten haben, gesagt zu bekommen, dass jetzt nichts mehr verkauft werden dürfe. Es gäbe da eine Unwetterwarnung.
Wir sehen die schwarzen Wolken am Firmament hinter den vier Volkswagenkraftwerkschornsteinen wohl, tun sie aber als Schönwetterwolken ab. Die Autostadt-Security sieht das anders und scheucht binnen weniger Minuten ca. 9.000 Zuschauende unter die schützenden Dächer der Piazza und des Kundencenters. Wir finden in zweiterem Platz und haben aus dem weitgehend verwaisten Gebäude heraus einen guten Blick auf Sturmböen und Starkregen. In dem fast leeren, riesigen Raum mit der Wandinschrift „Ready like you“ oder so ähnlich („Hey, die sind hier genauso fertig wie wir!“) stehen einige rollbare Sitzmöbel herum, die wir für ein kurzes Rennen, das ich knapp für mich entscheiden kann, nutzen, und dann werden wir schon wieder zurück auf den Platz vor der Autostadtbühne getrieben. Das alles läuft so reibungslos und entspannt ab, dass ich davon ausgehe, dass auch das Unwetter sich nicht der perfekten Organisation zu widersetzen getraut hat.
Mit gerade mal 50minütiger Verspätung betreten dann der Chefstyler und seine 11köpfige Band Disko No. 1 die Bühne und begrüßen mit einem fröhlich-funkigen „Hallo hallo hallo, was geht ab, Wolfsburg?“ das Auditorium. Was denn abginge, will Delay ganz oft wissen. Eigentlich eine saublöde und nachlässig formulierte Frage, aber dem sympathischen Entertainer mit Hut und Pilotensonnenbrille, ausgebeulter grauer Anzughose, der Hand im Schritt und der polarisierenden Nölstimme kann ich sowas einfach nicht übelnehmen, ebenso wie bekloppte und weitgehend sinnfreie Bandwurmgesänge wie „Liebe wird aus Mut gemacht, denk nicht länger nach, wir fahr’n auf Feuerrädern Richtung Zukunft durch die Nacht.“ Das stammt natürlich auch nicht von ihm, sondern aus „Irgendwie, Irgendwo, Irgendwann“ von Nena, dessen Reggae-Coverversion maßgeblich dazu beigetragen hat, Jan Delay als Solokünstler (bzw. Jan Delay & Disko No. 1 als Band) zu etablieren. Überhaupt Coverversionen, das kann er wie kaum ein Zweiter: Unter anderem „Für immer und Dich“ (Rio Reiser), „Türlich, türlich“ (Das Bo) und – in einer der insgesamt drei Zugaben – „Remmidemmi (Yippie yippie yeah)“ (Deichkind) finden ihren Weg in die Setlist. Ebenso wie Delays Überhits „Klar“ (gleich als zweiter Song), „Sie kann nicht tanzen“ (von dieser Rockplatte, auf die keiner Bock hatte), „Oh Johnny“, „Eule“, „Vergiftet“, „Ich möchte nicht, dass Ihr meine Lieder singt“, einigen Songs seiner ursprünglichen Band „Beginners“ und natürlich „Disko“, aber das Schöne an einer Tour ohne neues Album (bzw. mit der 25-Jahre-Jan-Delay-Best-of-Compilation „Forever Jan“) im Rücken ist, so sagt es der Künstler auch selbst in einer seiner zahlreichen und ausführlichen Anmoderationen, dass auch Lieder gespielt werden können, die weder Hit noch aktueller Albumbeitrag sind. Und so nimmt sich Delay die Zeit, auch Songs wie „B-Seite“ oder das wundervoll rührende „Zurück“ zu spielen. Bei letzterem bin ich bei Erscheinen zunächst über die ersten Zeilen „Und jetzt stehst du da und weinst und du flehst mich an, dass ich nicht gehen soll“ gestolpert und dachte o haue ha, da ist aber einer dolle dominant in seiner wohl toxischen Beziehung, bis ich begriff, dass Delay nicht von einer Beziehungspartnerin, sondern von seiner kleinen Tochter singt, die immer sehr traurig war, wenn der Papa aus seiner Wahlheimat Berlin nach Hamburg zur Arbeit im Studio oder irgendwohin auf Tour aufbrechen musste, weshalb Delay den Wohnsitz dann auch wieder nach Hamburg zurückverlegt hat, um Familienleben und Job besser unter einen (hihi, Wortspiel nicht beabsichtigt) Hut kriegen zu können. Ein großes Herz für Kinder scheint Delay tatsächlich zu haben: Zu Beginn des Konzerts stellt er erfreut fest, wie viele Kinder im Publikum seien, und weist auf die kostenlos erhältlichen Gehörschutz-Kopfhörer hin. Später macht er den zahlreichen Eltern im Publikum ein dickes Kompliment, dass sie ihre Kinder mitbringen, um mit ihm und Disko No. 1 eine Party mit guter Musik zu feiern und ihnen die eigens angefertigte und eher gruselige Kindermusik ersparen. Um dann für ein paar Minuten den Kinderkasper zu geben, und zwar witzig, authentisch und wahnsinnig sympathisch.
Das Bühnenbild finde ich auch Weltklasse, es ist in der Mitte von einem stilisierten Jan Delay, bestehend aus Hut und Pilotenbrille in der Art einer die Farben wechselnden Neonreklame dominiert und rundherum leuchten, blinken und flackern die Diskolichter. Auch die riesige Band als solche, Delays lässige Tanzschritte und das teilweise polonäsenhafte Rumgewusel des Sängers und der Sängerinnen (die „Delaydies“, hihi) sorgen dafür, dass es auf der Bühne und den beiden Leinwänden immer viel zu Gucken gibt.
Dass Delay und Band sich insgesamt dreimal zu ausführlichen Zugaben auf die Bühne zurückholen lassen, ist Dienst am Fan, und auch der Ort der Veranstaltung wird vom Künstler in angemessener Art gewürdigt. Immer wieder „Wolfsburg, was geht ab?“ und in einer der Zugaben fordert Delay das Publikum auf, mit Kleidungsstücken oder den ebenfalls kostenlos verteilten Regencapes zu wedeln und ergänzte: „Ihr könnt auch mit Autos wedeln“, oder bilde ich mir das im Taumel der Gesamteuphorie nur ein? Natürlich ist Delay hochprofessionell und viele seiner Aktionen wie z.B. das Freeze-Spiel, mit denen er das Publikum in die Show einbezieht, sind perfekt durchchoreografiert und seit Jahrzehnten immer gleicher Bestandteil der Show, dem Zeremonienmeister aus Eimsbüttel mit dem Schalk im Nacken gelingt es aber überzeugend, dem Publikum das Gefühl zu geben, dass es genau das hier jetzt nur genau hier und exakt jetzt gibt.
Nach der zweiten Zugabe werden „St. Pauli, St. Pauli“-Rufe im Publikum laut, und zu den Klängen dieses ikonischen Songs werden Jan Delay und Disko No. 1 noch einmal mächtig abgefeiert und dann nach ungefähr zwei Stunden High Energy Disco Rave mit lautstarkem Jubel aus der Autostadt verabschiedet.