Front Line Assembly – Kampfbereit – MDV Visual 2015

Von Matthias Bosenick (04.01.2016)

So ganz still und nebenbei erscheint auf einem Minilabel ein nicht ganz so stilles Livedokument der 2011er-Tour der kanadischen EBM-Helden Front Line Assembly. Der 75-minütige Mitschnitt stammt vom Kinetik Festival in Montreal (und die Bilder dazu von der dazugehörigen Nordamerika-Tour). Das dazugehörige Album „Improved Electronic Device“ sah den vermehrten Einsatz von E-Gitarren vor, wie seinerzeit auf „Millennium“, dem Album, das FLA 1994 auch in Industrial-Kreisen bekannt machte, und die Gitarren donnern folgerichtig auch in diesem Set ganz gehörig. So sehr, dass die elektronischen Elemente etwas untergehen. Sieht man davon ab, ist „Kampfbereit“ ein mehr als nur ordentlicher Film, den es sich aufgrund seiner geschickten Schnitte auch zu gucken lohnt.

Front Line Assembly sind einfach mal eine geile Band. Natürlich betrachtet man sie zuvorderst in ihrem Genre, weil sie, wie für dessen Vertreter üblich, außerhalb davon nicht wahrgenommen werden (außer mit dem chartskompatiblen Seitenprojekt Delerium). Doch auch für sich ist Bandkopf Bill Leeb ein guter Komponist, Arrangeur und Musiker. Die Alben, die er seit nunmehr 30 Jahren produziert, stechen deutlich aus der Masse hervor, mit Sound, Ideen, Vielfalt und Energie. Man kann kaum zwei FLA-Alben miteinander verwechseln, erkennt Leebs Musik aber immer sofort.

Auch live zementiert das Projekt seine Qualitäten. Weitgehend zumindest, denn die Elektosounds könnten hier ruhig deutlicher hervortreten, schließlich ist dies eine EBM-Band. Stattdessen dominieren hier Drums, Percussion und Gitarre; es fehlt etwas an Bass. Immerhin, auf diese Weise unterscheiden sich die Songs definitiv von den Albumversionen, was ja bei Elektromusik nicht immer der Fall ist. Wie so oft bewahrheitet sich auch hier, dass ein echtes Schlagzeug für Elektromusik einfach eine geile Ergänzung ist, bringt es doch (noch mehr) Leben und Dynamik in den Sound. Leeb wiederum ist alles, aber nicht wirklich eine Rampensau – ohne ihn wär’s aber auch blöd (siehe Leipzig vor ein paar Jahren). Etwas ungelenk hüpfzappelt er zu Breakbeats, richtet aber nur spärliche Worte ans enthusiastische Publikum. Den Funken überträgt zuerst die Musik und die Erfahrung, die der jeweilige Hörer mit ihr bereits machte, und Leeb ist mehr ein Bühnengehilfe, aber ein nett wirkender immerhin. Verglichen mit etwa The Prodigy oder den Genrekollegen Front 242 fehlt es ihm jedoch an Strahlkraft. Macht nix.

Leeb bedient sich bei den zwölf Tracks dieser Show bei Hits, bei Unbekanntem und vor allem beim damals aktuellen Album „Improved Electronic Device“. Die Mischung kommt gut, zeigt sie doch die enorme Spannbreite der Band. Trotz der Liveinstrumente hingegen sind die ganz alten Sounds aus den frühen 90ern sehr wohl als alt zu erkennen, der Rest fügt sich angemessen zusammen. Und was für eine Energie da herausdringt!

Wo andere Elektropopper viel zu oft in vertraute Harmonien abdriften, überrascht Leeb bei FLA mit unerwarteten Melodien, Effekten und sogar Tempi und Beats. Manche seiner Tracks gestalten sich sogar progressiv in dem Sinne, dass ihre Struktur nicht der üblichen Radiostruktur entspricht. Lang sind die Songs sowieso. Und so voller Energie, dass man einfach nicht stillstehen kann. Man blickt ein wenig neidvoll auf die zappelnde und wogende Meute vor der Bühne, auf die Filmemacherin Anastasia Blink alias Nasty Byte mit der Kamera halten lässt.

Nicht nur dabei erweist sie sich geschickt. Sicherlich hat sie vornehmlich die Bühne im Fokus, mit vielen Details, Finger auf Tasten, Drumsticks, Mikros und so; man sieht also: Ja, das ist echte Musik. Doch nutzt sie zusätzlich die vielen In- und Outros sowie Instrumentalpassagen in der DLA-Musik, um das, was anderswo im Bonusmaterial oder zwischen die Tracks geschnitten landet, in die Show zu blenden. Man sieht das Publikum feiern. Und wie. Man bekommt Einblicke in das, was hinter der Bühne passiert. Dazwischen blendet sie die Visuals, die FLA auf zwei Leinwänden zeigen. Ihre Schnitte, Zooms und Splitscreens sind außerdem sehenswert: Nicht selten passt sie sie an die Musik an, sie dokumentiert nicht einfach nur das Geschehen. Sie nimmt die Musik ernst. Man legt die DVD also nicht nur wegen der Songs, sondern auch wegen der Bilder ein. Da macht es auch nichts, dass diese Bilder oft so verwaschen sind wie der Elektrosound. Und dass es keinen Bonus gibt. Der Titel stammt übrigens nicht von Front 242, sondern ist dem Song „Angriff“ entnommen.

Ach ja, die Songs! „Angriff“ und „Shifting Through The Lens“ etwa überzeugten ja schon auf dem ohnehin extrem überzeugenden „Improved Electronic Device“. Unter den Hits sind „Circuitry“, „Plasticity“, „Prophecy“ und „Millennium“, richtig alt ist lediglich „Resist“. Eine geile DVD, trotz der kleinen Makel. Jetzt soll nur endlich „Live Wired“ von VHS auf DVD übertragen werden, dann wird alles gut.

Trackliste:
01) I.E.D. 5:26 (von „Improved Electronic Device“, 2010)
02) Circuitry 6:09 (von „Hard Wired“, 1995)
03) Angriff 6:48 (von „Improved Electronic Device“, 2010)
04) Resist 5:52 (von „Caustic Grip“, 1990)
05) Release 5:22 (von „Improved Electronic Device“, 2010)
06) Hostage 6:58 (von „Improved Electronic Device“, 2010)
07) Plasticity 6:44 (Single, 1996, bzw. „Explosion“, 1999)
08) Pressure Wave 5:21 (von „Improved Electronic Device“, 2010)
09) Prophecy 6:24 (von „Implode“, 1999)
10) Shifting Through The Lens 6:11 (von „Improved Electronic Device“, 2010)
11) Millennium 6:26 (von „Millennium“, 1994)
12) Liquid Separation 7:14 (von „Millennium“, 1994)