Text und Fotos von Guido Dörheide und Matthias Bosenick (15.04.2023)
Was für eine Präsenz! Sobald Torre Florim als letzter des Quintetts De Staat aus Nijmegen die Bühne betritt, kniet die Gemeinde nieder. Ihm würde man alles abnehmen, sich unterordnen, sich leiten lassen. Und so geschieht es auch im Faust in Hannover. Da ist es auch egal, ob man die Musik wirklich letztgültig feiert oder nicht, der Mann im mattsilbrig glänzenden Anzug, mit dem todernsten, furchteinflößenden und fordernden Gesichtsausdruck und den suggestiven Bewegungen fordert alle Aufmerksamkeit ein. Und kann sich doch auch mal, sobald die Band keinen synthetischen White-Man’s-Funk spielt, sondern ins Psychedelische abtaucht, hinter den Songs zurücktreten. Eine Naturgewalt! Und sympathisch.
Von Guido Dörheide
Manchmal tut es not, sich in die Landeshauptstadt zu begeben, auch wenn das hier nicht jeder gerne hören tut, aber erstens ist es da gar nicht so schlimm und außerdem gibt es dort häufig gute Konzerte zu sehen und zu hören. Gestern gab sich die niederländische Indie-Rock-Institution De Staat in der 60er-Jahre-Halle des Faust-Kulturzentrums in Linden-Nord die Ehre und wurde dabei von den sympathischen, jungen, leider jedoch musikalisch etwas farblosen I Love You Honey Bunny aus Prag unterstützt. Die fünf nach einem Zitat aus „Pulp Fiction“ (nämlich „Everybody be cool – this is a robbery“) benannten jungen Herren spielen keyboardlastigen, unauffälligen Indie-Pop und werden dafür vom Publikum respektvoll bis begeistert gewürdigt. Ein guter Auftakt für einen sehr sehr guten Konzertabend ist gemacht.
Dann ertönt ein düster-dröhnender Keyboardteppich und unter massiver Zuhilfenahme von Bühnennebel betreten De Staat die Bühne. „Das war schon mal geil!“ ruft ein Fan, nachdem die Musiker an ihren Instrumenten Platz genommen haben, noch bevor das erste Stück begonnen hat, und erntet damit frenetischen Jubel.
Der Rest des Abends gehört zu weit über 50 Prozent Torre Florim, dem Gründer, Sänger und Rhythmusgitarristen von De Staat. Gewandet in einen gut sitzenden, leicht metallisch-schimmernden Anzug, vermutlich aus dem Hause C&A Brenninckmeyer (na klar – Band uit Nederland, kleding uit Nederland) spielt er gleich beim ersten Song sein ganzes Repertoire an Gesten aus, die immer a) an einen fanatischen Prediger, b) an den vermeintlich lockeren Chef, der auch selber mal die Ärmel aufkrempelt und c) an den vermeintlich lockeren Chef, der mit aufgekrempelten Ärmeln dem Personal noch persönlich aufs Maul haut, wenn es nicht spurt, erinnert. Beim zweiten Song greift er dann zur Gitarre, nicht ohne dabei weiter ob seiner Bühnenpräsenz ein Indie-Rockstar-Fotomotiv nach dem anderen abzuliefern.
Bereits nach kurzer Zeit ist es Zeit für den ersten Hit der Band – „Old MacDonald Don‘t Have No Farm No More“ vom sophomoren Album „Machinery“. Der Song handelt von einem Menschen – vermutlich dem alten MacDonald –, der mit dem Messer in der Hand auf die Erlaubnis zum Töten wartet und, nachdem er diese von wem auch immer (Eventuell von Torre Florim persönlich? Er schaut zumindest dementsprechend drein…) bekommen hat, seine Kühe, Hühner und Lämmer schlachtet. Im Refrain erfahren wir dann, dass der alte MacDonald nunmehr keine Farm mehr hat. Die meisten Songs von De Staat bauen auf dem recht harten, an Urwaldtrommeln gemahnenden Schlagzeugspiel von Tim van Delft auf, das von Rocco Hueting und Jop van Summeren (der daneben für die Bedienung des Fender Precision zuständig ist) durch zahlreiche irre Synthesizer-Sounds angereichert wird, darüber legen sich dann noch die Gitarren von Vedran Mircetic und eben von Torre Florim, die dem ganzen Rhythm einen guten Hauch Blues verleihen. Besonders spannend gerät der Auftritt immer dann, wenn De Staat diese mühelos beherrschten Pfade verlassen, Torre Florim auf seine irre (und irre charismatische) Gestik verzichtet und dann gesanglich unter Beweis stellt, dass er nicht nur eine hochgradig wiedererkennbare Stimme und das Gespür für wohlklingende Slogans hat, sondern tatsächlich wunderbar zu singen in der Lage ist. Die ruhigeren, melodiöseren Stücke entfalten live einen ganz besonderen Zauber und die Zuhörenden stellen fest, dass Florim nicht gestikulieren oder tanzen muss, um das Publikum zu hypnotisieren, denn dazu reicht allein der stechende Blick über den Mikrofonständer hinweg.
Wo ich gerade vom Tanzen spreche: Das ekstatische Gezappel Torre Florims spielt in einer ganz eigenen Liga – er fuchtelt, hampelt, trippelt über die Bühne, egal ob mit oder ohne Gitarre, und das Ganze sieht niemals nach einer Karikatur, sondern immer nach echter Ekstase und Begeisterung aus.
Mit „Pikachu“ folgt nach kurzer Zeit der nächste Hit. Hier verlässt der in einen schwarzen Regenanzug gekleidete, der damit und mit seiner schwarzen Vokuhila-Ponyfrisur mit rasierten Seiten daherkommt wie eine Mischung aus sämtlichen Mitgliedern von Devo und Jack Black, Keyboarder Rocco Hueting seinen von einigen Instrumenten aus dem Hause Roland dominierten Arbeitsplatz, um gemeinsam mit Torre Florim einen Paartanz aufs Parkett zu legen. Ohne Anfassen natürlich – die beiden stehen sich gegenüber und performen eine Mischung aus Square Dance und dem Zimmernmannsklatsch aus „Spur der Steine“. Virtuos und witzig zugleich.
War ich mir nach dem Ansehen der Videos von De Staat nicht sicher, ob ich Torre Florim ob seines leicht irren Gebarens feiern oder fürchten sollte, im Konzert stelle ich fest: Er kommt als absoluter Sympath rüber und scheint mit seiner Ärmelhochkrempeligkeit und seiner Gestik in eine Rolle zu schlüpfen, die er perfekt ausfüllt. Gegenüber dem Publikum agiert er als perfekter Gastgeber, erzählt von Erinnerungen an ein Konzert in Hannover im Bei Chéz Heinz im Jahr 2013, fragt, wer zum ersten Mal bei einem Konzert von De Staat wäre und begrüßt die sich Meldenden dann als neuen Teil der Familie. Die Musiker werden von ihm einzeln vorgestellt, jeder während eines anderen Songs, und über sich selbst findet er die bescheidenen Worte „And I‘m Torre Florim. I‘m the singer of this band.“ Das Publikum jubelt ihm zu, bei so viel Understatement kein Wunder.
Ungefähr zur Hälfte des Sets dann der vermeintliche Höhepunkt: Die ersten Töne von „Witch Doctor“ sind zu hören. Das Publikum gerät außer sich und formiert sich im Mittelteil zu einem großen Kreis, der im Gleichschritt auf- und abhüpfend herumstampft, während Torre Florim seine höchst amüsante Auffassung von alternativer Medizin, Voodoo, was auch immer, zum Besten gibt, auf jeden Fall steht am Ende fest: Er ist nicht nur irgendein Doktor, er ist der Witch Doctor.
Im weiteren Verlaufe des Auftritts warten wir auf „Kitty Kitty“, nach „Witch Doctor“ und vor „Who‘s Gonna Be The G.O.A.T.?“ der zweitgrößte Hit der Niederländer. Und diesen heben sich De Staat für den Schluss auf. Und dehnen es von ohnehin schon üppigen sechs auf ungefähr zehn Minuten aus – ein toller Abschluss für ein super Konzert! Anschließend spielen sich am Merch-Stand noch herzergreifende Szenen ab: Ein vollbärtiger Fan zeigt auf ein T-Shirt, das er kaufen möchte, und der Verkäufer, ein Bandmitglied von I Love You Honey Bunny, weist schüchtern darauf hin, dass er „nur“ zur Vorband gehöre und daher nicht befugt sei, De-Staat-Devotionalien auszuhändigen, bis er dann merkte, dass der Fan T-Shirts und CDs seiner Band, der Vorband, kaufen wollte. Um den Verkauf der De-Staat-Merch-Artikel kümmerte sich dann Rocco Hueting und wir hatten die Gelegenheit, seinen schwarzen Regenanzug aus der Nähe zu bewundern und ihm zu dem gelungenen Auftritt zu gratulieren. Er antwortete, wir sollen wiederkommen, der nächste werde noch besser.
Von Matthias Bosenick
Erst kommen die vier Musiker auf die Bühne, Leadgitarrist Vedran Mircetic, Bassist Jop van Summeren, Multiinstrumentalist Rocco Hueting und Schlagzeuger Tim van Delft, dann erst Sänger und auch mal Gitarrist Torre Florim, gleich extrem wirkungsvoll, mit zurückgegeltem spärlichem Haupthaar, Businessbart und Silberanzug, tritt ans Mikro und guckt aufmüpfig. Zwischen dem brummenden Intro und dem ersten Beat ist ungefähr für eine Sekunde Stille, und in die hinein ruft einer aus dem Publikum: „Das ist schon mal geil!“ Er hat sowas von Recht und behält dies auch für die nächsten anderthalb Stunden. Florim tritt auf wie eine Mischung aus durchgeknalltem Prediger, Hemdsärmeligkeit vortäuschendem Topmanager und Game-Show-Host, ein Zampano, wie er im Buche steht, alles verkörpernd, was man an solchen Männern eigentlich Scheiße findet, aber das so geil, dass man ihm nur bereitwillig verfallen mag. Solche Typen fasst man sonst mit der Kneifzange nicht an, ihm würde man in die neue Weltordnung folgen. Ein Gigant in Glanzanzug und mit Halbglatze.
Man feiert die Stücke, in denen Florim seine manipulative Darbietungskunst auslebt, die zickig-zackigen synthetischen Nicht-Rock-Songs, deren Call-And-Response-Teile das Hannoveraner Publikum auswendig mitmacht, ganz überraschend, weil er genau in diesen Stücken seine Präsenz so überwältigend darreicht. Nach vier, fünf solcher Tracks wird die Musik plötzlich auch mal ruhiger, flüssiger, songartiger, und dann ärgert man sich erstmal, dass Florim davon dazu gezwungen ist, einen Schritt zurück zu machen und dem Song zugutekommend klar singt. Man ärgert sich aber nur so lang, bis man erfasst, wie geil auch diese Songs sind, wie geil überhaupt, denn die hysterischen sind bisweilen reichlich überzogen und sperrig, da gehen die psychedelischen besser an die Seele, da gewinnt dann die Musik über die Show und man bekommt einen neuen Zugang zu De Staat.
Denn ehrlich, nach dem Überraschungsknaller „Kitty Kitty“ fiel das dazugehörige Album „Bubble Gum“ erstmal erschütternd synthetisch und nervig aus. Erst der Blick, den Guido Dörheide mit dem Song „Witch Doctor“ und insbesondere dessen Livevideo dem Rezensenten abverlangte, öffnete ihn für De Staat, auch die jüngere Single „Who’s Gonna Be The GOAT“ vom angekündigten nächsten Album „Red, Yellow, Blue“ – den gebündelten gleichnamigen drei Singles, die in der Pandemie entstanden – überzeugte, und gerade mit dem Wissen um die suggestive Kraft, die eben „Witch Doctor“ ausstrahlt, war ein Konzertbesuch ein Muss, ganz gleich, wie nervig etwa „Pikachu“ ist. Das ist er auch live, mal ehrlich, aber egal.
Denn gerade dieser Song bietet eine unterhaltsame Performance, als der Keyboarder mit dem hässlichen Vokuhilaschnitt und der schwarzen körperunfreundlichen Kleidung mit Torrin im Duett singt und die Tanzperformance synchron ausführt. Mit abschließendem Handshake und In-die-Kamera-Grinsen für die Presse, ganz groß. Größer konnte der optische Kontrast zwischen zwei Männern gar nicht sein, und in der Kombination erinnern die beiden beinahe an die Pet Shop Boys. Was ein Spaß! Und Spaß hat man in dem Konzert ohnehin eine Menge, an der Performance Florims wie an der Musik. Und verdammt, plötzlich ist auch „Bubble Gum“ kein so schlechtes Album mehr.
Als letzter Song vor der Zugabe kommt überraschend schon „Witch Doctor“, das früher der Abschluss der Sets gewesen zu sein scheint, und der manische Straßenprediger Florim steht da wie auf dem Zuckerhut und braucht die Masse gar nicht zu dirigieren, der im Video vorgegebene Kreispogo stellt sich automatisch und von voller Freude ergebenen Jüngern ein. Die Erwartung, der Messias trete alsbald in die Mitte dieses Kreises, erfüllt er leider nicht, dafür nutzen andere die Gunst, die Welt um sich drehen zu lassen, und alle, wirklich alle in der Meute strahlen vor Glück. Als allerletzten Song spielen sie dann endlich auch „Kitty Kitty“, und wie in vielen vorherigen Stücken zerdehnen De Staat ein Element, lassen die Jünger damit glauben, der Song sei zu Ende, und setzen ihn nur umso brachialer fort.
Ja, die Musik ist mindestens sperrig, aber eigentlich dann doch ganz geil, sowohl die tanzbaren Synthrocksachen, die mal an die Talking Heads oder !!! denken lassen, als auch die epischen psychedelischen Tracks, die mal an The Young Gods, mal an Doctor And The Medics erinnern. Erstaunlich, dass es diese Musik in physischer Form nicht am Merch gibt, sondern lediglich Din-A4-Ausdrucke mit QR-Codes, über die man sie bestellen kann, und außerdem immerhin T-Shirts. Der freundliche Keyboarder mit dem Vokuhila strahlt das Glück darüber aus, dass man von der Messe noch ganz beseelt ist, als er die Shirts aushändigt. Auf Niederländisch angesprochen, antwortet er übrigens auf Deutsch, mit süffisantem Grinsen. Sind wir glücklich? Ja, wir sind glücklich.
Neben ihm freuen sich die jungen Musiker der Prager Vorband mit dem „Pulp Fiction“-Zitat I Love You Honey Bunny als Namen über die Aufmerksamkeit, die auch ihnen zuteilwird. Deren Musik war ebenfalls synthetisch dominiert, aber lang nicht so energetisch wie die von De Staat. Ganz ordentlich und passend zum Hauptact, wenn auch etwas langweilig. Der sich im Verlauf des Konzertes überdies vergewisserte, wer aus dem Publikum bereits bei früheren Shows in Hannover zugegen war, 2019 im Bei Chéz Heinz oder gar vor zehn Jahren in einem Venue, an dessen Namen Florim sich nicht mehr erinnerte, dafür aber die jubelnde Menge, und an alle gerichtet, die zum ersten Mal bei einem De-Staat-Konzert waren, sagte er: „Herzlich willkommen, ihr seid jetzt offiziell Teil der Familie.“ Wie gern man das nach diesem Abend ist. Witch Doctoooooooooooor!!!!