Von Onkel Rosebud (09.07.2023)
Während meiner Adoleszenz in der DDR gab es eigentlich nur zwei Entscheidungen zu fällen: Erstens, Mitglied der Jung- und Thälmannpioniere, der Deutsch-Sowjetischen Freundschaft, der Freien Deutschen Jugend und der Gesellschaft für Sport und Technik zu werden oder vorzugeben, an Gott zu glauben, um so um den Wehrdienst drum rumzukommen. Und zweitens, Depeche Mode oder The Cure. Die Antwort auf die erstere Frage lasse ich mal aus, aber letztere kann ich bis heute glockenklar beantworten: Songs wie „Play For Today“, „A Forest“ und „Blasphemous Rumours“ haben mein Leben verändert, aber unterm Strich hat Robert Smith einen Ein-Tor-Vorsprung vor Team Gore/Gahan/Fletcher.
Dann lernte ich meine Freundin kennen und sie sah es bei Entscheidung 2 genau andersrum. Und da sie Demo (in unserem Sprachraum ist auch DepschMohd geläufig) noch nie live gesehen hat und es absehbar ist, dass seit dem Ableben Andy Fletchers die Formation nicht mehr lange Bestand haben wird, gaben wir eine irrwitzige Summe Geld aus, um gemeinsam mit unseren nunmehr der Adoleszenz entstiegenen Sprösslingen dem Live-Event im Olympiastadion in Berlin beizuwohnen. Dass wir uns ausgerechnet den bisher heißesten Tag des Jahres ausgesucht haben, um gemeinsam mit ca. 80.000 Schaulustigen, hauptsächlich 50+, das 1936 eröffnete Olympiastadion heimzusuchen, hörte sich erst einmal nicht nach einer guten Idee an. Aber, Ende gut alles gut – vor allem für meine Freundin. Und darum ging’s. Der routinierte Auftritt von Depeche Mode ohne Fletch hatte auch für mich seine Momente. Genau genommen fünf (gleich am Anfang „It’s No Good“, zwischendrin „Everything Counts“ und „Stripped“, letztes Lied vor der Zugabe „Enjoy The Silence“ und 2. Zugabe „Just Can’t Get Enough“).
Im Verlauf des Abends dachte ich jedoch immer wieder an mein letztes Cure-Konzert, dessen Geschichte so viel mehr hergibt, deshalb folgt hier nun der Bericht vom 12.04.2013 im River Plate Stadium in der Hauptstadt Argentiniens, weil once a banshee, always a banshee.
Als Bewohner von Buenos Aires (sie bezeichnen sich selbst als „Porteños“, d.h. Hafenstadtbewohner) muss man viele Entscheidungen treffen. Eine, die für einen getroffen wird, ist, nördlich oder südlich der Avenida Corrientes zu wohnen. Das nämlich entscheidet der soziale Status, d.h. wer es sich leisten kann, wohnt im Norden. Eine Entscheidung, die man hier freier wählen kann, ist, ob man für River Plate oder Boca Juniors ist. Beides geht nicht, weil diese beiden Fußballvereine Barca und Real der südlichen Hemisphäre sind. Aber auch diese Entscheidung hat was mit nördlich oder südlich der Avenida Corrientes zu tun, auch mit für oder gegen Gott, rot oder blau, Beuteltier oder Hund als Mitbewohner, Dave Gahan oder Robert Smith…
In dem langen Reigen der Entscheidungen haben wir uns für Mario Kempes und gegen Diego Maradona, d.h. für River entschieden. So gesehen hat es gut gepasst, dass sich The Cure auf ihrer sieben Konzerte umfassenden Südamerika-Tournee im Estadio Monumental Antonio Vespucio Liberti angesagt haben. Heimspiel für River. Depeche Mode in La Bombonera (Boca-Stadium) wäre auch eine echte Alternative gewesen, gab‘s jedoch nicht.
Im August 1990 war ich das letzte und einzige Mal in meinem Leben auf einem Konzert von The Cure. Es war in der Garde in Dresden und mein erstes Konzert für Westmark. Es hat geregnet, Herr Schmidt hatte keine Lust und ich hielt mich ab dann an Morrissey, der Robert Smith als „whingebag“ (zu Deutsch „Heulsuse“, aber der korrekte Lexikoneintrag ist viel besser: „someone who constantly complains about everything or anything, and maybe as annoying as rustling a plastic bag in an ear for a few hours“) bezeichnet hat. Mittlerweile habe meinen Frieden mit der Band, die nie Mainstream sein wollte, jedoch die Inkarnation desselben ist, gemacht. Once a Banshee, always a Banshee! Heute frage ich mich, wie Robert Smith trotz Flugangst nach Südamerika gekommen ist. Und dass er an Arachnophobie leidet, hat er u.a. mit Ron Weasley gemeinsam. Was man so alles nicht wissen muss.
23 Jahre später, nach einem guten Frühstück, gingen meine Freundin und ich also hin – um das im Schreibsprech meines Sohnes zu formulieren. Vorher möchte ich noch loswerden, wie ich zu den Eintrittskarten gekommen bin. Einfach im Internet bestellen und nach Hause geschickt bekommen, geht hier nicht. Wobei – Einspruch – ersteres schon, aber bei der Bestellung muss man angeben, in welcher OCA-Filiale man die Tickets mit Personalausweis und Kreditkarte abholen möchte. OCA ist so eine Art dezentraler Postbote, der nicht nach Hause kommt. Hätte ich das bloß schon bei der Bestellung gewusst, denn ich habe San Telmo angekreuzt. Hörte sich irgendwie gut an, wie „Friday I’m In Love“. Mit der Bestätigung meiner Bestellung bekam ich eine Mail mit einem KooGa-Rabatt-Flyer. Ja, bei Koga habe ich auch schon Tickets bestellt, aber KooGa ist eine australische Klamottenkette, wie ich rausfand, als ich da versucht habe, meine Cure-Tickets abzuholen. Da erklärte man mir, ich müsse zu OCA, und die Argentinierin unseres Vertrauens bestätigte mir, dass nur OCA San Telmo die Tickets für mich bereithält. Also auf nach San Telmo (südlich der Avenida Corrientes). Das geht von Martinez (wo wir wohnten) am besten mit der S-Bahn bis Retiro (Hauptbahnhof), die hier eigentlich L-Bahn heißen müsste, aber, und jetzt zitiere ich meine Tochter: „Lieber schlecht gefahren als gut gelaufen“, dann U-Bahn-Linie C bis Station San Juan. Leider berücksichtigte ich mein Lieblings-Lebensmotto „Der frühe Vogel kann mich mal“ nicht, als ich ca. zwei Wochen nach der Bestellung früh um 9 Uhr in die Vorortbahn stieg, denn mit dieser Idee war ich nicht allein. Ich musste schon feste drücken, um überhaupt in die Bahn reinzukommen. Drinnen war es dann so eng, dass man die Arme über dem Kopf nicht an den Körper bekommen hat. Nichts für Heulsusen und Leute, die bei 40°C Umgebungstemperatur Angst um Ihre Kreditkarte haben. Eine vergleichbare Situation kann ich nur von der U-Bahn in Minsk 1988 berichten. Nach 3 Stunden (nur Hinfahrt) öffentlicher Nahverkehr habe ich dann noch von San Juan bis OCA San Telmo den vielen Obdachlosen dort die Parade abnehmen dürfen. Ganze Straßenzüge waren gesperrt und an jeder Kreuzung standen Uniformierte mit Maschinenpistolen. Ich summte „Killing An Arab“. Im OCA maßregelte mich dann eine ältere Dame, dass mit meinem Ticket nicht vor „mas o menos una semana“ zu rechnen sei. Immerhin war ich schon an der richtigen Adresse. Also habe ich den Ausflug eine Woche später wiederholt – Abfahrtszeit 11 Uhr und sogar mit Sitzplatz im Vorortzug.
Wir waren also da. Mit vielen, vielen anderen. Argentinier hüpfen gern und singen mangels Textfestigkeit gern die Keybordstimme mit. Herr Schmidt ist noch immer kein Peter Lustig, aber bei aller Altersmildheit gönnte er sich schon mal lausbubenhaft „It’s the right day, ey“, before er „Friday I’m In love“ anstimmte. Das fühlte sich einfach gut an, an diesem Freitagabend in Buenos Aires, zum Heimspiel. Meine Freundin kann auch was (oder wunderbar) sehen, weil die Durchschnittsgröße der Menschen hier weit unter der der Alemannen ist. So gesehen ein gelungener Abend in blau bei den Roten.
Onkel Rosebud