Von Matthias Bosenick (11.03.2019)
„Scheiß auf die Stadt, aber ich liebe die Leute“: Uwe Meyer, Sänger von Halle 54, bringt auf den Punkt, was der Abend, die Ausstellung, die Existenz von Subkultur in Wolfsburg transportieren. Mit diesen kleinen Festival rundet Organisator und Wolfsburgsfinest-Blogger Torsten Schitting die gefeierte Ausstellung „Soundtrack WOB“ ab, mit der Kurator Dr. Arne Steinert seit Oktober 2018 im Stadtmuseum der Wolfsburger Bevölkerung verdeutlichte, dass es in der Volkswagenstadt sehr wohl kulturelle Abweichungen vom schichtgetakteten Mainstream gibt. Die Gigs von Halle 54, Steamgenerator, Disco Mutante und Intercool und die sympathische Atmosphäre im früheren Kaschpa unterstrichen, wie relevant diese Subkultur für die Stadt ist und dass sowohl Protagonisten als auch Konsumenten glücklich zu schätzen wissen, was da passiert, sobald etwas passiert. Seligmachend, bewegend!
Die Musik allein war nicht das Berauschende an diesem Abend. Man spürte es dem Publikum an, wie glücklich und dankbar es darüber war, dass dieses Konzert überhaupt stattfand. Man geriet problemlos und ungezwungen mit wildfremden Menschen ins Gespräch, überall ergaben sich sympathische Verknüpfungen, die den Moment kaum überdauerten, aber den Abend bereicherten. Das Durchschnittsalter war recht hoch, nicht nur Indie.Disko.Gehn-DJ Timo stellte fest, dass kaum Jugendliche anwesend waren. Und doch dominierten diese den Pogopit bei Halle 54, in den sich dann auch Veteranen mitreißen ließen. Wer Strichliste führte, kam sicherlich zu dem Ergebnis, dass die meisten getragenen Band-T-Shirts von Halle 54 waren, gefolgt von Protector. „Es gibt diese Leute in Wolfsburg“, stellte Saunaklub-Chef Thorsten Skowronski nickend fest, „man muss sie nur aus ihren Löchern locken.“ Und genau mit einer solchen Veranstaltung gelingt dies – nicht zum ersten und sicherlich auch nicht zum letzten Mal, schließlich ist für den 19. Oktober schon die Indoor-Version des im Jahr 2000 zum letzten Mal ausgetragenen Open Arsch angekündigt, organisiert von Paul alias Mark Schmitz von der Band Amy Baker. Hier in Wolfsburg überträgt sich die Glückseligkeit wechselseitig zwischen Ausrichtern und Annehmern.
Genau: Wir sind hier in Wolfsburg, in einer Stadt, die von einem einzigen Arbeitgeber dominiert ist und deren Bewohner sich auch im kulturellen und gesellschaftlichen Wahrnehmen an eine ferngesteuerte Taktung angepasst haben. Vielen ist Abweichung suspekt, fremd, gefährlich – und diese Vielen wissen oftmals gar nicht, dass die Protagonisten und die Konsumenten dieses Anderen direkt in der Nachbarwohnung leben und morgens am Briefkasten beim Zeitungholen immer so freundlich grüßen. Mit der Ausstellung – das muss man sich auch auf der Zunge zergehen lassen: Die Kommune, die Stadt Wolfsburg, stellt eigenen Raum zur Verfügung, um ihre unangepasste Subkultur zu präsentieren – tauschten sich Subkultur und Bevölkerung aus, und es fanden sich die Beteiligten aus 50 Jahren Parallelwelt zum einen bestätigt und zum anderen überhaupt nach Jahren gegenseitig einmal wieder.
Wer in Wolfsburg anders ist, sieht sich bisweilen mit erheblichem Widerstand konfrontiert. Wer sich als Mitarbeiter dem Volkswagen-Diktat unterordnet, kämpft manchmal lebenslang seelische Schmerzen nieder. Mit Rock’n’Roll, Punk, Metal, Hip Hop und allen anderen eher radiountauglichen Genres finden viele dieser Gepeinigten eine Ausdrucksform – und Gehör bei einem einheimischen Publikum, das sich plötzlich verstanden fühlt. Wenn Halle 54 etwas in der Art singen wie „Ihr habt meinen Körper, ihr habt meine Seele, lasst mir wenigstens den Rest“, und einige Zuschauer skandieren den Song mit, und zwar nicht als selbstreferentielle Nostalgieparty, sondern sichtlich nachempfunden, treibt es einem die Tränen in die Augen, darüber, dass es dieses System überhaupt gibt, und darüber, dass man jetzt und hier das Glück hat, auf Seelenverwandte zu stoßen. „Respekt, wer hier in Wolfsburg auch 30 Jahre später immer noch Punk ist“, stellte Zuschauerin Andrea beim Blick auf die alten Gesichter fest. Wer jetzt nicht heult, hat es nie erlebt.
Kein Grund, keine gute Laune zu haben. Im Gegenteil. Die Leute feiern, die Leute albern herum: Statt „Komm, wir legen Feuer zusammen“ grölt bei Disco Mutante jemand im Publikum „Komm, wir legen Eier zusammen“. Die Leute sind freundlich zueinander, Männer sind unmännlich berührungsfreundlich, allen glimmen Funken in den Augen. Verglichen mit der Einwohnerzahl ist die Subkultur in Wolfsburg vielleicht klein, aber für sich gesehen ist sie riesengroß. Und verdient jede Aufmerksamkeit, nicht nur um ihrer selbst willen, sondern auch künstlerisch, natürlich. Und es hört nicht auf. Gottlob. Das Konzert war zwar ein würdiger Abschluss für die begnadete Ausstellung, aber nicht das Ende subkultureller Aktivitäten in Wolfsburg. Auch jetzt laufen Aktionen, die Material für eine Neuauflage der Schau in ferner Zukunft liefern. Wolfsburg rockt!
À propos Rock: Zur Eröffnung des kleinen Festivals bereitete das Quartett Intercool die Gäste mit gutgelauntem grooverockendem Hardcorepunk auf den langen, aber ausgesprochen kurzweiligen Abend vor. Mit ihrem Mix traf die Band allerhand Nerven, inklusive einiger eingestreuter Covers, darunter von Danzig und den Nine Inch Nails. Das Trio Disco Mutante bot anschließend genau das, eine merkwürdig mutierte Form von Disco, die punkinfizierte Rockmusik mit Country anreicherte und sogar für „A Forest“ von The Cure auf Deutsch ausreichend Raum hatte. Den metallischen Grunge mit Doom und Stoner vermengten danach Steamgenerator, untypisch ergänzt von einem Keyboarder und mit latent an James Hetflied erinnerndem Gesang sowie einem schlüssigen Cover von Kraftwerks „Radioaktivität“. Und Halle 54 unterstrichen abschließend, dass es seit 35 Jahren unmöglich ist, sie einem Genre zuzuordnen: Punk greift zu kurz, bei den Anleihen an Metal, Hardcore, Avantgarde und Experiment, mit denen das Quartett seine eigenen Songs immer wieder in überraschende und unerwartete Richtungen drängt.
Auch wenn die Bandnamen nicht in jedem Fall darauf schließen lassen, so standen doch größtenteils altgediente Wolfsburger Mucker auf der Bühne. Bei Intercool etwa spielt Olly Wiebel, früher bei Protector, Heritage und den Bitch Boyz. Disco Mutante borgen sich Halle-54-Drummer André Ottenhof aus, der mit Halle-54-Bassist Chrisz Meier auch schon bei den Honkas spielte. Toby Gloge von Steamgenerator stand schon für Oomph!, Grief Of God, Inner Bleeding, Access, Intoxicated, Ingrain, und Despised sowie aktuell parallel für Roadkill Revolution auf der Bühne. Auch bei Inner Bleeding und Grief Of God war Steamgenerator-Kollege Christian Steffenhagen, Marcus Milbrandt war ebenfalls bei Grief Of God sowie bei Cryptic Voices, Oliver Korsten bei Inner Bleeding – als Bandkollege übrigens von Konzertveranstalter Torsten Schitting. Sänger Cesare ist als Solist mit der Klampfe bekannt und war außerdem bei Britallion. Und Totti von Disco Mutante war früher bei den Blockheads. Geballte Wolfsburger Rockhistorie also. Ein Fest, in allen Punkten. Danke, Wolfsburg!
[Edit 13.03.2019] So schlimm finde ich Wolfsburg heute eigentlich gar nicht mehr, vielmehr stelle ich immer wieder eine gewisse Offenheit fest, die vermutlich daraus resultiert, dass VW und VfL Internationalität in die Stadt bringen und die Bürger sich wohlwollend daran gewöhnen, dass es das Andere gibt, auch, wenn sie es selbst nicht interessiert. Die scharfe Negativität schlug mir vor 25 Jahren innerhalb des umzäunten Geländes entgegen. Seither ist in Wolfsburg viel geschehen, viel Positives. Wie es sich dieser Tage indes jenseits des Kanals verhält, ist mir nicht bekannt. Einiges lässt darauf schließen, dass der zweibuchstabige Dominator weiterhin seinen Einfluss hat. In der Stadt tummeln sich aber viele Leute, die mit dem Betrieb und dessen Zwängen nicht in Zusammenhang stehen. Und das spürt man.