Von Matthias Bosenick (20.05.2018)
Wolfsburg: Eine Stadt im Takt eines einzigen Industrieunternehmens. Anders als etwa Detroit oder Sheffield hat Wolfsburg nie eine eigenständige Musikszene hervorgebracht, die sich auf die Industrie bezog; eine künstlerische Auseinandersetzung mit der Automobilfabrik gab und gibt es aber immer wieder, und das in den verschiedensten Genres. Diese begegneten sich bei der Feier zum 40. Geburtstag des selbstverwalteten Jugendhauses Ost, das eine Alternativfrequenz im Gleichtakt des Schichtsystems darstellt: linksalternativ, freidenkend, genrebündelnd, unkommerziell. Entsprechend lebendig, bunt und offen war die Geburtstagsfeier, mit Beiträgen unter anderem von Halle 54, Lemur und Indie.Disko.Gehn.
Das Publikum bot in seiner Mischung ein herrliches Bild: Von Erstbesuchern des Ost, als es neu war, bis zu jugendlichen Neulingen, von Punk über Metal und Hip Hop bis zu allen möglichen alternativen und nichtalternativen Lebensentwürfen. Die respektvolle Koexistenz von Umgedrehte-Kreuze-Metalern und Umgedrehte-Käppi-Hiphopern bot ein Bild der riesigen Freude. Daran hatten sicherlich auch die Musikprogrammkuratoren der Feier ihren Anteil: Gebucht waren unter anderem Bathsheba (Stoner-Doom), Wolkenkratzer (Emo-Deutschrock), Halle 54 (Punk mit Metal-Einschlag) und Lemur (Hip Hop); die angekündigten Turbostaat sagten kurzfristig ab, weil die Musiker allesamt spontan krank waren.
Das Publikum dieser Bands und die Freunde des Ost flanierten also in Eintracht über das Gelände und durch das kunterbunt besprühte Gebäude, stöberten an den Ständen, die veganes und nichtveganes Essen anboten, oder Kleidertauschbörsen, antirassistische und flüchtlingsunterstützende Infomaterialien, darunter von Heart & Passion, T-Shirts, Schallplatten, Kuchen, Getränke natürlich und überall die Möglichkeit für Gespräche. Oder anderen Schabernack, gegen Dämmerung kursierte etwa ein Fußball im Kreise der Lemurhörer, der weite Wege zurücklegte und Fremde locker miteinander kicken ließ. Und je später der Abend, desto mehr Menschen sah man mit Schallplatten unterm Arm herumspazieren.
Natürlich hatte eine solche Veranstaltung auch etwas Klassentreffenartiges. Die Älteren freuten sich, einander nach all den Jahren wiederzusehen; dabei fiel auf, wer aus der Wolfsburger Musikszene durch Abwesenheit glänzte: Ein solches Kulturzentrum erfordert bei manchen erstaunlicherweise eine größere Akzeptanz, es löst bisweilen ein Fremdeln aus, weil die Darstellungen von so etwas wie einem selbstverwalteten linksalternativen Jugendzentrum medial und durch missgünstige Mund-zu-Mund-Botschaften in ein unangenehmes Licht gerückt sind. Manche fürchten wohl, mit ihrem Verhalten auf Widerstand zu stoßen, weil sie sich politisch vermeintlich unkorrekt äußern; diese sollten sich in der Tat ernsthafte Gedanken darüber machen, was daran so schwer sein soll, nicht rassistisch, sexistisch oder homophob zu sein – mehr verlangen linke Zentren nicht. Es geht um ein besseres und respektvolleres Miteinander, daran ist nichts verwerflich.
In einem solchen Geiste nun begann die ausgezeichnet organisierte Geburtstagsfeier schon mittags, auch mit der Livemusik, und die auf zwei Bühnen. Wer am späten Nachtmittag erst eintraf, musste sich vorhalten lassen, mit Bethsheba ein eindrucksvolles Konzert auf der Bühne im Hause verpasst zu haben. Die Belgier doomen mit Frauengesang und Saxophon; manchen Aufgeschlossenen gefiel die Nähe zu Pink Floyd, eine Feststellung, die Eingeweihte womöglich überrascht haben könnte. Eher Heranwachsende sprachen hernach auf der Außenbühne Wolkenkratzer aus Helmstedt und Wolfsburg an, in Sound und Wort: Ihr Emo-Rock war fein gespielt, aber recht gewöhnlich, und die Botschaften waren obschon treffend, so doch sehr einfach gehalten. Keine Kritik: Wenn sie damit Jugendliche erreichen und womöglich zum Reflektieren anregen, ist alles gewonnen.
Den Klassentreffencharakter potenzierte anschließend das Konzert von Halle 54 auf der Innenbühne: Die Band ist nur unwesentlich jünger als das Ost und setzte sich nicht nur im Namen, den sie mit der ersten vollautomatischen Produktionshalle des VW-Werks teilt, von Anfang an mit dem Geist auseinander, der in Wolfsburg herrscht, weil es dort Volkswagen gibt. Also von der für alle nachvollziehbaren Entscheidung, seine Seele für das gute Monatsgehalt zu verkaufen, bis zur von VW eingerichteten Spielwiese Autostadt, über die das Quartett befindet, VW bevorzuge „Auto statt Menschen“. Musikalisch drapierte Halle 54 ihren Punk angenehm um die übliche Polka herum: Die Stücke überraschten mit Wechseln in unerwartete Rhythmen, bis hin zu Crossoverstrukturen, und die Gitarre ließ die Nähe zum Metal heraus. Zu hüpfen gab es ausreichend, und die jungen Langhaarigen feierten den Pogo-Pit, dass die alten Haarlosen nur staunten. Abwechslungsreich, oldschool, sympathisch und mit treffenden Ansagen: Halle 54 untermauerten ihren nicht selten zum Kult erhobenen Stand als punkbezogene Bezugsgröße in der Volkswagenstadt.
Auszugsweise reihte sich danach Lemur darin ein, mindestens mit seinem Stück „Wolfsburg“, in dem er ebenfalls von der „Scheißfabrik, in die jeder reinwill“ spricht. Wie auch Halle 54 erfuhr der Rapper eine Sozialisation im Ost, mit dem Projekt Herr von Grau aber wanderte er bald nach Berlin aus und startete ebendort seine Solokarriere als Lemur. Man kann Turbostaat nur dankbar sein für die Absage, denn Lemur fast zwei Stunden lang in die stimmungsvoll illuminierte Dämmerung auf dem Osthof rappen zu lassen, war der gelungene Abschluss des Liveprogramms. Der Wortmensch untermalte seine Kaskaden mit einer angenehmen elektronischen Musik, nicht mit Geballer, nicht mit plakativen Effekten, nicht mit Billigsounds. Selbst Tanzrhythmen energetischerer Art ließ er eher gegen Ende einzelner Tracks vom Stapel, wenn er Drum And Bass, Trap, Dubstep auf die Meute feuerte und sie damit zum dennoch nur kurzen Tanzen aufforderte. Das Wort hatte das größere Gewicht. Dabei fiel es gar nicht so leicht, seinen Endlossätzen folgen zu können. Dafür behielt er sich vor, gegen Ende des Auftritts einen Track a capella vorzutragen, wie einen Poetry Slam quasi: Das war formal mutig, inhaltlich nachvollziehbar und künstlerisch großartig. Sein Set endete mit Partybeats, das war angemessen und außerdem eine gute Überleitung zur Party im Inneren.
Dort feierte das DJ-Team Indie.Disko.Gehn seinerseits Geburtstag, den zehnten nämlich. Am 8. Mai 2008 startete das Duo im Ost und pendelte mit dem Programm monatlich zwischen Ost und gleichzeitig eröffnetem Sauna-Klub im Kulturzentrum Hallenbad hin und her. Drinnen forderten also die Beats zum Tanz auf, draußen ließen die Leute den Abend in der klaren, aber kühlen Nacht ausklingen. 40 Jahre Ost: eine wichtige Instanz in der Industriestadt Wolfsburg.