Dominic Razlaff – September 2015 – Stuklabel 2016

Von Matthias Bosenick (27.11.2016) / Auch veröffentlicht auf Kult-Tour Der Stadtblog

Es bewahrheitet sich: Das Tape erfährt derzeit ein Revival, das, anders als das der LP, einfach mal nicht so erwartbar war. Was will man mit diesem Plastikgehäuse mit einem Magnetband drin, das beim Abspielen seine eigene Auflösung initiiert? Aber wofür gibt es denn Downloadcodes. Bevorzugt ist dieses Medium übrigens in den Genres Black Metal und Ambient zu finden. Der Braunschweiger Dominic Razlaff alias DR bestätigt dies mit seinem frisch auf dem japanischen Stuklabel erschienenen Album „September 2015“, das er mit einem beatlosen Ambient befüllt. Seine Spezialität sind bis zur Unkenntlichkeit verfremdete Field Recordings, die er in seine Synthiemodulationen einwebt. Er selbst spricht von Drone, aber der Begriff klingt viel dunkler als die Musik, die man tatsächlich zu hören bekommt.

Vom Rhythmus muss man sich verabschieden, wenn man dieses Tape einlegt. Diese fünf Tracks leben von ihrer eigenen Dauer, die sich aus sich zaghaft wandelnden Soundflächen ergibt. Hier gilt das Rock’n’Roll-Gebot: Laut hören ist Pflicht, ansonsten verbindet sich die Musik mit den Alltagsgeräuschen, was allerdings auch eine feine Art ist, sie zu genießen. Doch zunächst sollte man sich ihr bewusst aussetzen.

Anxiety“ heißt der erste Track, und mit diesem Wort untermauert Razlaff seine Ansicht, sich eher auf dem Feld des Drone als des klassischen Ambient zu bewegen. Doch vielleicht liegt es an den Hörgewohnheiten: Angst löst das Stück nicht aus, klingt vielmehr sogar hoffnungsvoll. Das ist schon mal ein schöner Einstieg in die Rezeption von Razlaffs Musik: Je nach eigener Stimmung oder dem jeweiligen Befinden löst sie andere Assoziationen aus. Was dem einen dunkel und dräuend erscheint, wirkt auf den anderen wie ein Riss in der Wolkendecke, der den Blick auf den Himmel freigibt. Razlaff selbst verwendet für seine Musik die Bezeichnung „melancholisch“, und damit hat er absolut Recht: In Melancholie liegen Schwermut und Hoffnung beieinander.

Mit „Fluoxetin“, so der Titel des zweiten Stücks, bekämpft man auf chemischem Wege Depressionen. Nun kann man das Stück wahlweise als Grund, das Medikament zu nehmen, oder als Folge der Einnahme auffassen: Einerseits ist der oberflächlich kaum veränderte Ton Sinnbild für Schwermut, andererseits auch für die Benommenheit unter Medikamenteneinfluss. Oder er wirkt einfach nur wie ein Nickerchen mit dem Kopf unter Wasser. Etwas heller wird es mit „Processed Water Glass“, dessen Titel die Vorgehensweise der Aufnahme verraten mag. Dabei klingt der Ton hier nicht nach Wasserglas. Eher nach mit einem Schraubenschlüssel als Bogen verwendeten Spiel auf einem Stahlseil als Saite, aufgenommen in einer Kathedrale, und das so klar, als wäre er maschinengemacht.

Die zweite Seite beinhaltet nur zwei viertelstündige Tracks, da hält es Razlaff mit den frühen Krautrock- und Ambientmusikern der Siebziger. Interessanterweise sind die Spielzeiten für beide Tracks auf dem Tape etwas länger angegeben, als sie als Datei dauern. „02_09_2015“ besteht, anders als die ersten drei Tracks, aus mehr als nur einer deutlich wahrnehmbaren wabernden Frequenz. Hier spielen zwei bis drei Töne ineinander, umeinander herum; man sollte jetzt aber nicht erwarten, dass damit muntere Fröhlichkeit einkehrt. Vielmehr wechselt der Track auf Spielzeit mehrfach seine Grundstimmung und lässt damit ganz unterschiedliche Bilder vor dem inneren Auge entstehen. Man möchte zudem ergründen, wie die Töne erzeugt wurden, und meint, ein Streichinstrument, eine Kirchenorgel oder einen verfremdeten Chor zu erkennen, doch ist Razlaff nie eindeutig genug, um seine Quellen preiszugeben. Zum Schluss offenbart Razlaff womöglich eine Motivation für sein Schaffen: mit „Boring Sunday“. Der Track entführt den Hörer einmal mehr unter Wasser. Danach muss man sich einmal schütteln, um in die Realität zurückzukehren.

Es ist ein Abenteuerland, das Razlaff mit seinen Field Recordings und Synthies generiert. Dabei ist der Mann mit seinen Veröffentlichungen so temporeich, wie es die Musik nicht erwarten lässt: Auf den verschiedensten Plattformen im Internet kann man sich seine Alben, EPs, Podcasts, Files, Tracks und Experimente herunterladen. Man findet seine Musik auf den üblichen Seiten wie Bandcamp, Soundcloud und Spotify, aber auch auf weißrussischen oder japanischen Labelseiten und im Internet Archive. Manche seiner Titel verraten den Entstehungszeitraum („From July To October“), manche den Ort („Braunschweig EP“), manche den Anlass („Wieso kann ich nicht schlafen?“ auf der „Nine Layers EP“) und manche das Objekt, das der Aufnahme zugrunde liegt („Ukulele Textures“). Noch frischer als dieses Tape ist übrigens seine neue CDr „Convolution Reverb“ auf dem Label Lagerstätte.

Dieses Tape steht jetzt im Regal zwischen Solbrud, Cryptic Brood und Devin Townsend, die allesamt kürzlich Musik auf Kassette veröffentlichten. Lustig ist bei „September 2015“ der Downloadvorgang: Da es sich um ein japanisches Label handelt, erfolgt auch die Codeeingabe auf einer japanischen Webseite. Fröhliches Rätselraten! Den Soundtrack dazu kann man so lange vom Tape hören.

Einige ausgewählte Links:
Soundcloud
Bandcamp
Petroglyph
Lagerstätte
Sgustokmusic
Spheredelic
Spotify