Von Matthias Bosenick (12.06.2016, editiert am 14.06.2016) / Auch erschienen auf Kult-Tour Der Stadtblog
An diesem Braunschweiger Turbosamstag kommt selbst an nur einer Veranstaltung schon zweierlei Gigantisches zusammen: Das Livemusikprogramm des Festivals Theaterformen findet wie immer am Haeckelschen Gartenhaus statt, das seinerseits dieses Mal Bestandteil des am selben Tag eröffneten vierten Lichtparcours’ ist. So ist der idyllische Platz heute trotz des immensen Konkurrenzprogramms so voll, wie ich ihn beim Festival Theaterformen noch nie erlebt habe. Der Grund ist sicherlich die Band dieses Abends: Stereo Total. Nicht ganz mein Fall, aber hierher lockt mich ohnehin mehr als nur die Musik.
Was freue ich mich auf den Ort an sich: Leicht an den Hügel der Ringwallanlage im Theaterpark geschmiegt, mit Lampions unter den Bäumen und Klappstühlen dazwischen, lädt der Bereich vor dem dieses Mal wegen des Lichtparcours‘ bunt blinkenden Gartenhaus zum entspannten Verweilen ein, und wer etwas Party haben will, nähert sich eben der Bühne auf dem größeren Platz. Doch das ist heute gar nicht so einfach: Es ist wunderbarerweise knüppeldickevoll. Auf dem Weg zur Theke verliere ich meine erste Peergroup, auf dem Weg von der Theke zur Bühne meine zweite. Als sich nach dem Schlusspfiff meine dritte Peergroup verabschiedet, stoße ich zufällig wieder auf meine erweiterte erste und beginne den schönsten Teil der Nacht. Aber dazu später.
Um Punkt 22 Uhr erfolgt der Anpfiff. Brezel Göring und Françoise Cactus entern lauthals die Bühne und besetzen ihr Instrumentarium. Was an zusätzlichen Musikern fehlt, ersetzt der Computer, den Rest bedient das Duo im Wechsel selbst: Keyboards, Gitarren, das Schlagzeug. Das beherrschen sie alles, Respekt dafür, doch ist die Musik so einfach gehalten, dass dies die Leistung zugegebenermaßen etwas schmälert. Angelehnt an Frühachtziger-NDW-Experimente, spielen sich die beiden durch ihr inzwischen üppiges Oeuvre. Weil die Veranstalter die Nachbarn vor übermäßigem Lärm schützen müssen, dreht die Band nicht so laut auf – das tut dem Sound nicht unbedingt gut, er bleibt etwas dünn, auch wenn er dadurch natürlich auch angenehm ohrenfreundlich ist. Ein weiterer Grund für die unzähligen Fans, sich noch dichter an die Bühne zu drängen. Und dort ausgelassen abzutanzen und die Lieder mitzusingen.
Die bekanntesten davon handeln seit 23 Jahren von Schlüpfrigkeiten, von Frau Cactus vorgetragen mit ebenso schlüpfrigem französischen Akzent: „Schön von hinten“, „Liebe zu dritt“ und natürlich „Du bist gut zu Vögeln“. Außerdem singt sie Lieder in ihrer Muttersprache und auf Japanisch, deren Inhalte sie kurz zusammenfasst und die sich thematisch nicht wesentlich davon wegbewegen. Andererseits haben die beiden auch ein paar sprachliche Besonderheiten im Repertoire, die oftmals besonders Leuten ein- und auffallen, die Deutsch als Fremdsprache lernten: das lustige Beinahe-Oxymoron „Exakt neutral“ etwa.
Je weiter nun das Konzert voranschreitet und ich mich der Bühne nähere, desto mehr steckt die zum Teil recht windschiefe Musik des Duos auch mich Zweifler an. Vielleicht ist es auch die infektiöse Ausgelassenheit der Menschenmassen vor der Bühne, die die Arme in die Luft reißen und die Band feiern. Spätestens bei „Wir tanzen im 4-Eck“, für das Cactus und Göring sich haufenweise Unterstützung aus dem Publikum auf die Bühne holen, freunde ich mich mit dem Duo und seinem Sound an. Und passend zur weltweiten Tributbekundung seit Januar spielen auch Stereo Total kurz vor Schluss noch David Bowies „Heroes“, und zwar in einer fantastischen NDW-Schnellversion, die sie aber unabhängig davon bereits vor drei Jahren als Single veröffentlichten. Und Göring crowdsurft zum Abschied. War dann ja doch noch ganz gut, das Konzert. Dann sind wir Helden!
Dennoch, nachhaltig von sich überzeugen kann mich das Konzept Stereo Total nicht. Seinerzeit hielt ich es für einen Witz, der sich verliert, je erwachsener man wird. Doch mitnichten, Stereo Total sind und bleiben ausgesprochen beliebt. Das kann ich insofern nachvollziehen, als dass sich etwa für mich der Witz von Eläkeläiset auch nicht mindert. Doch bei Stereo Total funktioniert das für mich nicht so gut. Nimmt sich Brezel Göring noch wie ein routinierter Musiker aus, wirkt Françoise Cactus wie versehentlich als Ersatz für die eigentliche Sängerin auf der Bühne verirrt, nicht wie eine erwachsene Frau, die ihre Kunst verkörpert. Das schlägt sich auch in Texten und Musik nieder, die beide bei mir nicht so recht zünden mögen.
Aber für die Musik allein bin ich ja nicht hier. Die Atmosphäre ist es, die hier besonders ist, und dafür freue ich mich über jede musikalische Begleitung. Obwohl ich nun doch noch feststellen muss, dass sich das Programm mit dem Wechsel des Kurators zu meinen Ungunsten verändert hat. Sein Vorgänger brachte Bands und Musiker nach Braunschweig, die zwar in der Indieszene Rang und Namen hatten, aber nicht gängigen Trends entsprachen, sondern vielmehr ein versiertes Kennertum erkennen ließen. Ich bekam Musiker zu sehen, die ich bereits liebte und die ich ansonsten nicht auf heimischem Grund zu erleben bekommen hätte. Das ist dieses Mal gar nicht so. Mein Problem, klar, aber ich stelle dies fest und bin mit Blick auf die zurückliegenden Jahre etwas enttäuscht.
Aber natürlich nicht von der Einrichtung als solcher. Auf dem Festivalgelände ist es einfach schön und ich treffe immer viele freundliche Menschen hier. So auch in dieser Samstagnacht. Es ist halb Mitternacht, die Massen verziehen sich aus gutem Grund nur zögerlich, es herrscht eitel Mondsichelschein. Die immer noch zahlreichen Reste haben inzwischen fast freien Zugang zur freundlichen Theke und finden sich in den aberwitzigsten Bekanntheitskonstellationen inklusive Geburtstagssektkorkenknaller zusammen. Als hätten die Braunschweiger Livemusikgoutierer nur auf eine Veranstaltung wie diese gewartet und könnten sich einfach nicht davon lösen. Haben sie wohl auch, können sie auch nicht.
Es läuft die zweite Stunde nach Mitternacht. Das spontane Fest setzt sich auf dem Wall unter den Lampions fort, das Lichtparcours-Gartenhaus lädt zum Entdecken ein. Vordergründig wirkt die Arbeit „But No One’s Home“ vom Kevin Schmidt vielleicht etwas einfach: Das Haus ist wie vorweihnachtlicher US-Lichterterror mit Aberdutzenden Lampen und Leuchtdiodenbändern bepflastert und blinkt wechselvoll in die Nacht. Rein äußerlich spricht mich diese Arbeit nicht unbedingt an, aber auf die begeisterte Aufforderung aus meiner Peergroup hin begebe ich mich mit Begleitung im Innern auf Entdeckungstour. Und da zeigt diese Installation ihre ganze Pracht. War das Gartenhaus vor zwei Jahren noch irgendwie gastronomisch genutzt, so sagt es mir zumindest meine Erinnerung, steht es jetzt leer und ist wie die Außenseite komplett mit flackernden Lampen ausgekleidet. Zusätzlich steht in jedem Raum ein Kofferradio, das einen zumindest für daran gewöhnte Geister entspannenden Industrial-Ambient-Sound aussendet. Während wir uns noch im wechselnden Licht zu orientieren versuchten, nutzen Jugendliche das Setting für eine ergänzende Performance: Mit Klanghölzern, Kastagnetten und einer Mundharmonika improvisieren sie zum vermeintlichen Gruselscore, andere vollführen dazu Tai-Chi-Übungen. Die wechselnden Farben und Lichtintensitäten verleihen den fast ausgeräumten Räumen neue Dimensionen, der Blick durch das Fenster vermengt Innen- und Außenlicht, es entstehen neue Orte, neue Atmosphären, neue Sinneseindrücke. Auf einmal macht das vermeintlich uninspirierte Kunstwerk einen inspirierenden Spaß und animiert die eigene Kreativität, es lädt zu kunterbunten Reisen durch das verwinkelte Erdgeschoss ein. So macht moderne Kunst Laune.
Also, sowohl das Festival Theaterformen als auch der Lichtparcours werden künftig Ziel meiner Nachtverbringung sein. Da stehen noch so manche Abenteuerabende aus. Und was das Musikprogramm betrifft, vielleicht gibt es dabei für mich ja auch etwas Neues zu entdecken. Ansonsten kann ich mir sicher sein, nette Leute zu treffen, und das ist immer ein guter Grund, unterwegs zu sein.