Von Matthias Bosenick (15.03.2015)
Was für ein unfassbares Wochenende. Eigentlich war ich nur deshalb in Essen, weil ich in Wuppertal keinen Schlafplatz fand, und dort wollte ich das Vollplaybacktheater sehen. Sah ich auch. Na, und wenn ich schon mal in Essen war, dann gerne auch was länger, schließlich liebe ich den Pott und hatte da noch ein paar Abraumhalden offen. Und dieser Aufenthalt fügte meiner Reihe an unglaublichen Erlebnissen mit der Plattform Airbnb eine weitere Position hinzu. Was als warmherzige Schlafgelegenheit schon positiv begann, mündete in ein Soli-Konzert für die Essener Oberbürgermeisterkandidatur von „Die Partei“-Politiker Jürgen Lukat in der Punk-Bar Panic Room mit vier Bands und den unfassbarsten Kontakten.
Irgendwie habe ich nahezu immer das Glück, bei Airbnb an Gastgeber zu geraten, die weitgehend in mein Profil passen. So war es in Genua und Antwerpen, ansatzweise in Kopenhagen und ganz besonders nun in Essen. Nach der Nacht in Wuppertal hatte ich mir für den Freitag vorgenommen, fünf Jahre nach meinem Erstbesuch die begehbare Achterbahn „Tiger & Turtle“ in Duisburg endlich im fertigen Zustand zu betrachten. Zum Ende des Kulturhauptstadtjahres 2010 war die geplante neue Landmarke nämlich nicht nur noch nicht fertig, sondern eigentlich nicht mal im Bau: Lediglich die Betonfundamente steckten in der Heinrich-Hildebrandt-Höhe im Duisburger Angerpark. Doch während ich nun beim üppigen Frühstück in A.s Küche saß, traf meine Gastgeberin mit einer Freundin ein. Sofort vertieften wir drei uns in angeregteste Gespräche. A. führte R. und mich zu ihrem Urban-Gardening-Projekt, und während wir staunten, diskutierten und uns austauschten, landeten wir bei der guten, alten Kultur, und R., die zudem auch noch ursprünglich ganz aus der Nähe von Braunschweig stammt, nur von der anderen Seite des damals noch vorhandenen Zauns, den sie auch noch über abenteuerliche Wege überwunden hatte, berichtete, dass ihr Freund T. einer von fünf Betreibern einer Essener Punk-Bar ist, in der an dem Abend ein Konzert stattfinden sollte, und fragte, ob ich nicht mitkommen wollte.
Was für eine Frage! Im Ruhrgebiet gibt es keine alternativen Viertel, analog zu Schanzenviertel (Hamburg), Äußere Neustadt (Dresden) oder den entsprechenden Vierteln in Berlin. Vor fünf Jahren schon stieß ich bei der Suche nach den Alternativen auf eine Broschüre, in der verschiedene alternative Schauplätze aufgeführt waren, darunter das Unperfekthaus in Essen, eine Art Künstlerdorf in einem großen Gebäude, auch noch direkt gegenüber vom Gegenentwurf dazu gelegen, dem ECE-Center. Nach dem Besuch dort hatte ich mir vorgenommen, meine Kenntnisse in alternativen Lokalitäten im Pott allgemein und in Essen speziell zu vertiefen. Und R. besorgte mir den Zugang dazu auf dem Silbertablett. Was für eine Frage also! Natürlich! Wir tauschten Telefonnummern aus.
Zunächst ließ ich mir auf „Tiger & Turtle“ die Märzsonne auf den Pelz scheinen. Mehr als eine halbe Stunde lang war ich allein auf diesem Wunderwerk der Landmarken, das dem Tetraeder in Bottrop eine ernsthafte Konkurrenz sein könnte. Bislang war das einer meiner Lieblingsplätze im Revier, „Tiger & Turtle“ ist ebenbürtig. Eine Achterbahn im Miniaturformat, die bis auf den Looping begehbar ist. Die ersten Schritte auf den Metallroststufen kosteten mich einige Überwindung, weil ich die Örtlichkeit ansonsten in höherem Tempo und in einem Wagen gewohnt war. Schnell gewöhnte ich meine latente Höhenangst an die Begebenheiten und ich genoss den Blick zwischen Gasometer Oberhausen und Fernsehturm Düsseldorf.
Noch ein Besuch im Kunstmuseum Küppersmühle im Duisburger Innenhafen und eine kurze Standzeit auf Deutschlands größtem Parkplatz, der A40, dann raste ich mit dem Bus von A.s Unterkunft aus in die Innenstadt und hockte mich in den Panic Room. R. brauchte etwas länger, sie packte noch ihre Sachen für einen Alpenurlaub, der am nächsten Tag starten sollte. Also kaufte ich mir an der Mercedestheke ein Astra (lokale Biere gibt’s dort nicht – es ist eine Punk-Bar) und fragte den nächstbesten Partei-Angehörigen, wie stets erkennbar am blauen Hemd und der roten Krawatte, nach dem Anlass für das Konzert. Er berichtete nun, dass der „Die Partei“-Kreisverband Essen ein Soli-Konzert ausrichtete, um den Wahlkampf für die Oberbürgermeisterkandidatur von Jürgen Lukat zu finanzieren. Vier Bands traten dafür auf. Wie es sich für vernunftbegabte Kulturschaffende gehörte, gab mein Informant zwar zu, mit den Musikrichtungen selbst nicht allzuviel anfangen zu können, dass er seinen persönlichen Geschmack aber der guten Sache unterordnete.
Als die erste Band schon spielte, traf R. ein und zeigte mir die Lokaltiät auch in den eigentlich gesperrten Teilen. Schließlich war sie befugt. Im oberen Stockwerk gab es eine Galerie, von der aus man auf das Geschehen in der Bar herabblicken konnte, wenn dort Konzerte stattfanden. Das war heute nicht der Fall: Die Bands spielten im Nachbarraum, zugänglich über schmale Stufen, die auf und ab führten und den irrigen Eindruck erweckten, man beträte einen Keller. Gleich links in dem Raum regulierte T. den Sound von „Not Pennys Boat“, einem jungen Trio aus Essen, das Indierock für ein junges Publikum spielte, mit pathosschwerem Gesang des versierten Schlagzeugers. Im Hintergrund prangte ein „Die Partei“-Banner, stilecht spiegelverkehrt. Wenn T. gerade nichts zu regeln hatte, erzählte er mir: „Du kommst aus Braunschweig? Mit meiner Band hab ich da mal im Fire-Abend gespielt. Ich habe sogar noch den Mitgliedsausweis.“
Das musste ich erstmal sacken lassen. Ich stand da in Essen in einer Punk-Bar, von deren Existenz ich nur deshalb wusste, weil der zufällige morgendliche Besuch meiner Gastgeberin mich dort abends hingeschleppt hatte. Als wäre das nicht schon geil genug, kannte ihr Freund das inzwischen leider längst stillgelegte Braunschweiger Fire-Abend. Die Welt, eine Erbse.
Die Redebeiträge des wortgewandten Schlagzeugers von „Not Pennys Boat“ waren unterhaltsamer als die Musik des Trios. Die drei bedienten geläufige Jungalternativenrockklischees, das aber handwerklich unkritisch. Die Älteren im Publikum honorierten immerhin den Beitrag für „Die Partei“, die Jüngeren feierten das Trio. Lustigerweise bewegte sich der langhaarige Bassist, als spielte er parallel in einer Black-Metal-Band. Gleichzeitig.
R. geleitete mich durch den verwinkelten kleinen Saal um die Bühne herum, wo sich eine nicht minder kleine Theke versteckte. Dort schenkte Frank, wohl der eigentliche Chef des Ladens, Getränke aus. Wir drei verfielen sofort in Gespräche und verfolgten das Bühnengeschehen von der Seite aus. Dort folgten nun „Käpt’n Panda“ aus Marl. Vier Mann, bis zu vier Stimmen, gebellte, nicht unbedingt gesungene Texte kritischer Natur, druckvolle Mucke, amtliche Riffs, ein fröhliches Brett. Nicht virtuos, nicht außerordentlich kreativ, aber unterhaltsam. „Ein kurzer Blick, ein wissendes Nicken: Es gibt tausend Wege, ein System zu ficken“, sangen sie abschließend mit glaubhaftem Nachdruck. Und das passte ja auch zum Anlass.
Zu R. und mir und damit auch zu Frank an die Theke gesellte sich ein mit beiden befreundetes Paar. Und mit allen vier befreundet war Keith, den alle Kies nannten und der auch bei uns seine Getränke zu sich nahm und angenehm körperbetont mit den anderen plauderte. Derweil wechselte die Band auf der Bühne erneut: Es folgten „The Cherrypops“, ein fröhliches rockendes Pop-Quintett mit einer Sängerin, die optisch in den Fünfzigern verankert war, mit Stirntuch und Bluejeans. Zwei weitere Frauen bedienten Saiteninstrumente, zwei Männer Schlagzeug und Gitarre. Die Band hatte Power, und mindestens dank der Sängerin war das Publikum hingerissen und forderte Zugabe um Zugabe. Die letzte war „Das Model“; bei „The Cherrypops“ klang es eher nach der Version von Big Black als der von Kraftwerk. Respektabel!
Inzwischen waren R. und auch das befreundete Paar nach Hause gegangen. Bei mir blieb Keith, der mir erzählte, was es mit El Fisch, dem viertel Programmpunkt, auf sich hatte: Er ist Mitglied der Mülheimer Lokalmatadore, einer prolligen Rock’n’Roll-Punktruppe, von der ich sogar schon mal gehört habe. Keith diskutierte das Verhalten von Alternativen Zentren, die mit ihren stringenten Haltungen Bands wie die Lokalmatadore nicht auftreten ließen, sie aber insgeheim mochten; das kenne ich von vergleichbaren Zentren auch: Wegen der Veto-Einigung muss nur einer gegen etwas sein, dann passt es nicht ins Konzept des Ladens, obwohl die Mehrheit der Gruppe es sehr wohl goutiert. So erlebte es auch Keiths eigene Band: Er ist Substitut-Schlagzeuger bei Eisenpimmel. Und von denen habe ich nun wirklich schon gehört. Viele Alternative Zentren kämen mit dem Humor solcher Ruhrpottbands wie Lokalmatadore, Kassierer und eben Eisenpimmel nicht klar, meinte Keith. Und vertraute mir gleich noch Geheimnisse über das nächste Album seiner Band an, beziehungsweise der Band von Siggi, der eigentlich Tom heißt. Illustre Gäste und ein bombastisches Konzept, so viel sei verraten. Keith ist außerdem Mitglied in zwei weiteren Bands, Die Kleins und 2nd District. Und nochmal: Ich stehe hier in Essen in einem Punkschuppen, den ich nur indirekt dank meiner Airbnb-Gastgeberin kenne, und tauche in die lokale Muckerszene ab. Aus dem Nichts ins Alles.
Zwischendurch stellte sich die Hauptperson des Abends vor, Oberbürgermeisterkandidat Jürgen Lukat. Er verlas die Gewinne einer Tombola und stellte sich gegen Spenden für Selfies zur Verfügung. Ganz klar, ein Mann des Volkes, dessen Wahl lediglich eine Frage der Formalitäten ist.
Mit Keiths nächstem Gesprächspartner verband mich zunächst der Vorname und dann sofortige Sympathie. Den beiden beim Reden zuzuhören, war der nächste Genuss: Sie verfielen bald in den Ruhrpottslang. Genau wie El Fisch neben uns auf der Bühne, „ich fange am trinken“. Allein mit Gitarre und einem vernünftigen Bauch brachte er den Saal zum Kochen. Elvis-Songs, Punk-Klassiker und Ruhrpott-Hits wechselten sich ab, die Menge grölte mit, vermutlich so bierselig, wie ich es längst war. „Bottroper Bier“, 1977 von Jürgen von Manger nach Udo Jürgens‘ Schlager „Griechischer Wein“ umgetextet. Das Liebeskummerlied „Ich bin voll wie die A40“. „Das ist eine geniale Idee“, strahlte ein Gast mit glänzenden Augen neben mir, der gerade von Frank das nächste Bier in Empfang nahm. In der Tat, und wir prosteten uns zu.
Weil ich nun für den nächsten Tag noch ein kleines Programm auf der Liste hatte, so wollte ich mir das von Duisburg nach Oberhausen gezogene Legoland ansehen (klappte nicht, weil Erwachsene ohne Kind nur zu bestimmten Aktionstagen zugelassen sind) und die Halde Hoheward in Herten (klappte, obwohl ich die Halden verwechselte und mich zunächst auf der benachbarten Halde Hoppenbruch verlief; erst danach nahm ich bei Nieselregen das zurzeit in Sanierung befindliche Observatorium auf Hoheward in Augenschein), machte ich mich zu vorgerückter Stunde auf den Heimweg. Ich verabschiedete mich aus dem Panic Room wie ein Stammgast. Wie schön: Es gibt eine weitere öffentliche Anlaufstelle für mich in Essen. Und private außerdem. Ein Geschenk, das. Der Pott ist einfach mal geil.