Von Matthias Bosenick (27.11.2014)
Mit Goethes Erben wird Oswald Henke offenbar niemals so richtig fertig, auch wenn er das immer wieder betont. Seit acht Jahren ruhen die Aktivitäten dieser in Gruftikreisen der „Neuen Deutschen Todeskunst“ zugeordneten Band, aber in jüngster Zeit ist Henke unter dem alten Namen wieder auf Bühnen unterwegs, anlässlich des 25. Geburtstags der Erben. Wer sich vorab zum Kauf verpflichtete, erhielt eine Doppel-DVD von der Jubiläums-Show, „Rückkehr ins Niemandsland“, auf der der Fan zwei Stunden Goethes Erben live mit dem typischen theatralischen Gestus des Lyrikers und Schauspielers Henke findet. Man kann natürlich diskutieren, ob man Henkes Anti-Erben-Haltung und Doch-noch-Rückkehr ernst nehmen kann. Interessanter ist jedoch, wie man als Herausgewachsener selbst mit der musikalischen Zeitreise umgeht.
Sicher ist, dass man von Henke jederzeit Qualität bekommt. Seine Mitmusiker sind dezidiert ausgewählt, Tänzerinnen und ein Grufti-Zauberer ergänzen die Show, und der Zampano selbst geistert expressiv wie gewohnt durch sein Set. Konzerte der Erben waren nie reine Musikereignisse, dieser Linie bleibt Henke treu. Doch ist auch die Musik ein Ereignis, dieses Mal sind die Hits und Albumtracks für Streicher, Klavier und Percussion arrangiert, also weniger rockig als noch zuletzt, aber deutlich voluminöser und wärmer als in den spartanischen Anfangsjahren. Überraschend warm, überdies. Mindy Kumbalek fehlt, leider; eigentlich fasste man die Erben immer als Band von Henke und Kumbalek auf. Als Ersatz steht hier Sonja Kraushofer auf der Bühne, was gottlob nicht weiter unangenehm auffällt, auch wenn man L’Âme Immortelle nicht ausstehen kann. Auch mit der Deko und den Requisiten greift Henke auf die Vergangenheit zurück: Eine Million Kerzen illuminieren das Geschehen, aus einer Kiste holt er Krone, Puppe, Dornenkrone und andere Augenfänger früherer Performances hervor.
Das Set ist in zwei Akte unterteilt. Los geht es mit einem eher besinnlicheren Teil, in der zweiten Hälfte wird es musikalisch und inhaltlich krass und radikal. Die Stücke decken die gesamte Karriere ab, von „Der Spiegel“ von der ersten Kassette „Der Spiegel, dessen Weg durch stumme Zeugen zum Ende führt“ (1990) über „Die letzte Nacht“ vom Debüt „Sterben ist ästhetisch bunt“ (1992) bis „Kopfstimme“, das es als Remix auf der bis dato letzten Veröffentlichung gab, der Maxi-CD „Tage des Wassers“ (2006). Live-Klassiker wie „Märchenprinzen“, „Der Weg“, „Vermisster Traum“, „Flüstern“, „Keiner weint“ oder „Iphigenie“ fehlen nicht, dafür aber die Single-Hits „Marionetten“, „Der Eissturm“, „Glasgarten“ und das Nick-Cave-Cover „Sitz der Gnade“. Wer sich die DVD zulegt, lässt sich also auf eine Henke-Auswahl dessen eigener Erben-Favoriten ein.
Musikalisch also ist die „Rückkehr ins Niemandsland“ die Reise wert, absolut. Und dann begegnet man nun auch Henke wieder, der sich in seinen jüngsten Projekten „Henke“ und „fetisch:Mensch“ zwar nicht von seinem rezitativen Sprechgesang abwandte, aber doch weitgehend von der übertriebenen Theatralik. Die lebt er hier nun mehr oder weniger zwangsläufig wieder aus. Sicher, das ist eine Zeitreise, die zunächst daran erinnert, wie man sich in den 90ern an die spröde Kunst der Erben gewöhnen musste, die mit kargen Instrumentierungen Abscheulichkeiten postulierten. Wie man sich mit Erben-CDs im Regal von den einen abgrenzen und den anderen zuordnen konnte. Wie man die Karriere und die musikalische und inhaltliche Entwicklung der Erben verfolgte. Wie man sich über den Humor des in seinem Gebaren oftmals angenehm ungruftigen Henke freute. Wie man erwachsen wurde und mit Wohlwollen erlebte, dass auch die Erben reiften. Wie man noch erwachsener wurde und feststellte, dass man sich seine Lieblingsmusik längst nach ganz anderen Aspekten aussuchte. Wie man jetzt also den Erben wieder begegnet und sie eher distanziert und kritisch betrachtet: Was passiert mit mir, was passiert dort auf der Bühne? Muss ich mich womöglich fremdschämen?
Sobald der Gruftizauberer gleich zum Anfang der DVD seine Kerzen zu Flummis macht, kommt der Gedanke, wie scheuklappig die so genannte Schwarze Szene doch ist. Alles Ungruftige ist nur dann relevant, wenn es ein gruftiges Outfit erhält. Das hat in der Szene schnell genervt, dass man sich für Nichtkonformes rechtfertigen musste. Was erstaunt, da doch die Subgenres im Gothic so breit gefächert sind wie sonst nirgends. Und doch sind die Ränder so scharf abgegrenzt, dass die Gruftis alles außerhalb Liegende ignorieren. Mit der Folge, dass sie sich künstlerisch immer mehr im eigenen Sud suhlen. Die Protagonisten vergessen, dass die Pioniere völlig Artfremdes zu ihren Einflüssen zählten, und das ist ja auch logisch, schließlich gab es Gothic ja noch nicht: Pink Floyd, Led Zeppelin, Roxy Music, David Bowie sind namentliche Impulse für die ersten „schwarzen“ Bands. Heute jedoch beziehen sich die Musiker nur noch auf andere Musiker der eigenen Suppe. Völlig inzestuös stellt man fest, dass es in nahezu allen Subgenres zu absoluter Konformität und damit Langweiligkeit kommt. Selbst alte Helden wie Deine Lakaien verlassen sich auf ihre ausgelatschten Pfade. Neue Impulse kommen maximal von außerhalb, findige Medien greifen sie dankbar auf, weil selbst die Berichterstattung offenbar sonst zur absoluten Redundanz verkommt. Was also macht ein Oswald Henke heute, der die Goethes Erben, Mit-Initiatoren und Helden der deutschsprachigen Gruftmucke, reaktiviert?
Mit den neuen Arrangements vermeidet Henke, dass die Songs in Gestrigkeit stecken bleiben. Die Lieder sind erwachsen, Henke bedient nicht die Rückwärtsgewandtheit, die das Konzept als Trittfalle bereithält. Trotzdem findet man sich in den vertrauten Songs und Hooks wieder. Und freut sich, sie zu hören. Henke meint es ernst, und trotzdem zeigt er Witz und Selbstironie. Er weiß, was er tut, und er tut es gut. Man sieht ihm gerne zu, wie er sich ins Drama seiner Gedichte und Songs fallen lässt. Es stimmt schon, Goethes Erben stammen aus einer anderen Zeit – aber Henke steht trotz aller Nostalgie unpeinlich mit beiden Beinen in der Gegenwart. Und in der Zukunft: Demnächst gibt es mit „Weg zurück“ eine neue Single der Goethes Erben mit der an sich unsäglichen Anne-Clark-Kopie Sara Noxx.
Dem findigen Archivar greift Henke übrigens vorweg: Im Booklet sind sämtliche Quellen der gespielten Stücke aufgelistet, inklusive Live-, Single- und Remix-Verwertung. Das Cover ist witzig, fast süß: Im South-Park-Stil zeigt es einen gewundenen Drachen. Ein achtminütiges Making-Of ergänzt den Mitschnitt vom Februar 2014 in Leipzig.