Shake Up The Monsters!: Seducer, Hoax, TV Smith & UK Subs – Live im Gasthaus Zur Linde, Groß Oesingen, am 17. Februar 2015

Von Matthias Bosenick (18.02.2015)

Dieser Artikel ist auch erschienen auf Kult-Tour Braunschweig.

Heldentreffen in der Heide: Die Lokalhelden Hoax laden unter dem Motto „Shake Up The Monsters!“ die anderen Lokalhelden Seducer sowie die internationalen Punkhelden UK Subs und TV Smith ein. Kein Hoax: Wir sprechen von Groß Oesingen, einem Bauerndorf in der südlichen Lüneburger Heide, und mit dem Gasthaus Zur Linde von einem Veranstaltungsort, der ansonsten 70. Geburtstagen und Vereinsjahreshauptversammlungen als Kulisse dient. Wir sprechen außerdem von einem Dienstagabend und von Punkrock und Heavy Metal. Und wir haben die Hütte voll, mit Altpunks, Altmetalern, Althippies, Altindies sowie diversem Jungvolk, das seine Eltern und Onkels nach zehn Jahren Pause endlich mal selbst auf der Bühne erleben will (Hoax). Zusammen ergeben all diese Leute eine Melange, die in einem mindestens einstündigen Dauerpogo gipfelt. Ein denkwürdiger Abend nicht nur für die Landbevölkerung, sondern auch für die Bands, und zwar gerade deshalb, weil sie vor einer für sie wohl eher unkalkulierbaren Landbevölkerung spielen. Damit hatten sie nicht gerechnet. Wir auch nicht. Punx not dead, und er hat schon lange nicht mehr so lecker gerochen.

Zunächst wundert man sich, dass vor dem Gasthaus Zur Linde groß das „Schnitzelbuffet“ angekündigt wird – eigentlich sollten hier heute andere Bands spielen. Hintenrum wird eine Show draus, und dort sammelt sich schon die einladende Mischung aus Kutten-, Iro- und Bartträgern sowie neugierigen Jugendlichen. Der holzverkleidete Saal ist beachtlicherweise schon zu spätnachmittaglicher Uhrzeit, also kurz nach 19 Uhr, gerammelt voll. Die PA befindet sich mitten im Raum und ist umrandet von überschützenkönigsscheibengroßen Wagenrädern, die die Stadtkids von heute bestenfalls aus Museen kennen. Schon vor dem Start der ersten Band beweist die Landjugend ihre sprichwörtliche Trinkfestigkeit und stapelt die Bierbecher in Babelhöhe auf den Tischen. Die Alten stehen dem Durchfluss in nichts nach, sie haben lediglich eine andere Recyclingattitüde.

Mutig, ein Punkset mit einer Metalband zu beginnen. Doch es beweist sich einmal mehr, dass sowohl Punks als auch Metaler die wohl offensten Subkulturgruppen sind, denn die Symbiose ist lebendig und der Zuspruch auf allen Seiten groß. Seducer spielen ein Set aus gemächlichen Metal britisch geprägter Art, mit hoher Stimme, zwei Gitarren und musikalisch eher an frühe Maiden als an Metallica erinnernd. Kenner in der direkten Zuhörernachbarschaft wissen, dass es eine gute Entscheidung der Schweimker Tempest-Nachfolger war, von der eher dünnen Triobesetzung auf ein Quintett aufzustocken. Nicht nur die Mitglieder der Otter-Biker nicken anerkennend, auch sonst recken sich rundum die Pommesgabeln in die Scheunendecke. Dem Umfeld angemessen schließen Seducer ihr Set mit einem schleppenden Song, den The Exploited prägten (nachträglich recherchiert vermutlich „Troops Of Tomorrow“), und untermauern so mit ihren heavy Riffs, dass die Lücke zwischen Punk und Metal mit Leichtigkeit überbrückbar ist.

Schon als nächstes stürmen die Gastgeber die Bühne, was dann doch ein bisschen überrascht, letztlich aber bezeugt, wie respektvoll die Groß Oesinger mit ihren Gästen aus dem UK umgehen. Hoax standen zehn Jahre lang auf keiner Bühne, und vor dem bis dato letzten Mal hatte es ebenfalls zehn Jahre gedauert, bis sie wieder aktiv geworden waren. In den 80ern und frühen 90ern gehörten die drei LPs und die Kassette von Hoax zum Soundtrack der Adoleszenz all jener aus der Nachbarschaft, die ihren musikalischen Horizont von Gitarren an sich nicht einschränken ließen. Auch, wenn man die Platten dann eine Weile lang im Schrank verstauben ließ – heute Abend sitzen die Texte wieder, als hätte man in all der Zeit nichts anderes gehört. Erstaunlich, was das Gehirn alles parat hält. „Wunderbar“, so der Opener, ist es, diese vertrauten Songs wieder zu hören. Sofort fällt auf, dass Sänger Vincent an seinem Stil gefeilt hat: Er singt nicht mehr „wunderbahar“, sondern moduliert die Vokale. Weitere Veränderungen fallen auf, so heißt der „Vollstrecker“ zwischendurch mal „Arschlecker“, und seine Aktivität ist nicht mehr nur, „er zeigt alle sie an“, sondern „er scheißt sie alle an“. Da sich, sofern man den Überblick korrekt behält, im Verlaufe des Gigs mindestens acht Musiker unter dem Hoax-Banner tummeln, klingen die Songs zwangsläufig auch musikalisch anders als auf den Platten. Hoax greifen bis auf ihr englischsprachiges Frühwerk zurück, und spätestens, wenn einem auch die deutschsprachigen Songs wieder auf der Zunge parat liegen, begreift man, dass man es bei Hoax nicht mit politisch oder gesellschaftlich ernsthaft erbosten Musikern zu tun hat, sondern mit – nun – Dorfpunks, die über Dorfthemen sinnieren. Das ist auch ein Stück Niedersachsen, gegen das sie indes mit „Mit ist kein Hirn gewachsen“ immerhin insofern vorgehen, als dass sie sich konkret gegen Nationalismus aussprechen. Ansonsten: „Affenland“, „Agony“, „Auf dich fahr ich ab“, „Bodybuilding“, „Der Führerschein“, „Home Sweet Home“, „Insanity“, „Ugly Barons“ – die Jugend holt einen ein, die Zunge macht sich selbständig, die Fäuste recken sich wie ferngesteuert. Mann, Hoax live, wie früher, als sie Gäste wie die Abstürzenden Brieftauben oder Dietmar Wischmeyer nach Groß Oesingen holten. Ein Fest.

Mit TV Smith steht hernach die erste internationale Legende auf der Bühne, allein mit der Akustikgitarre. Einst bei den Adverts, ist der nun 58-Jährige seit Jahren solo unterwegs. Mit Verlaub, er sieht älter aus, wie er da so drahtig in zu knappen Shirt und Hose seine Gitarre schrammelt. Aber mit was für einer Inbrunst: Der Mann hat eine Energie, von der sich so mancher im Publikum eine Batterie voll abzapfen könnte. Sein Gitarrenspiel ist zwar mitnichten virtuos, aber er hat dank seiner Stimme eine Präsenz, die die Leute mitreißt. In diesem Stil intoniert er nicht nur Songs von seinem jüngsten Album „I Delete“, sondern auch Klassiker wie „Expensive Being Poor“ oder selbstverständlich „Gary Gilmore’s Eyes“ der Adverts, das die Alten im Publikum dann auch selig mitsingen. Insgesamt teilt TV Smith jedoch die Massen: Zusätzlich zu seinen alten Fans generiert er einerseits neue, die von seinem Auftritt zutiefst beeindruckt sind, aber andererseits gibt es auch Anwesende, die mit Akustikgitarrenpunk nichts anfangen können oder den Gig schlicht zu lang finden. Doch Respekt zollt ihm jeder, der Applaus ist riesig und TV Smiths Augen leuchten angesichts des Zuspruchs, den ihm die Provinz angedeihen lässt. Der Geschichtenerzähler (auf Deutsch, indeed) ist enorm bewegt, sagt er, und wir sind es spätestens jetzt auch.

Tja, und dann geht es erst so richtig los. Wer hätte das gedacht, dass sich jetzt erst die Energien so richtig Bahn brechen. Die UK Subs, deren Sänger Charlie Harper das einzig verbliebene Gründungsmitglied ist, punkrocken den Saal in bestem Sound und in einer Energie, die sofort den Permapogo starten lässt. Der Bass groovt mit einem leicht dubbigen Unterton, die Gitarre rotzrifft, wenn sie nicht soliert, und die Drums sind punktgenau treibend. Es gibt nicht nur onetwothreefour, die Beats sind vielfältig, bis hin zum Blues, wie Harper feststellt. Egal was, der Pit pogt. Haare und Körper fliegen, Bierbecher sowieso, egal mit welchem Füllstand, außerdem diverse Brillen, die sich die Altpunks dann grinsend aus der Bodenbrühe fischen. Das ist allen klar: Das ist grad ein bedeutsamer Augenblick, für jeden vor Ort, auch für die auf der Bühne, und Harper bestätigt genau das: Ein „wonderful moment“ sei es, dass die Leute so abgehen, sagt er ergriffen. Die Leute fordern Zugabe um Zugabe, und die UK Subs bringen sie ohne auch nur einen Funken Energieverlust.

Nach vier Stunden Programm geht das Licht an. Hallo, Groß Oesingen. Wer hätte das gedacht. Das war für alle eine Flucht aus dem Bekannten, für die Weitangereisten, die mit einer so lebendigen Resonanz auf dem Dorf nicht gerechnet hätten, wie für die Anwohner, die die weite Welt zu Gast hatten und die Sau nach allen Regeln der Kunst rauslassen konnten. Das war eine perfekte Veranstaltung, mit freundlichem Personal, angemessener Deko, gutem Sound und heterogenem Programm. Nun, Hoax – und wenn ihr das nur alle zehn Jahre macht, erlebt man doch Meilensteine, die die Dekade prägen. Danke dafür. Bis zum nächsten Mal!

PS: Ja, der Rezensent kennt die Provinz; er stammt aus einem Nachbardorf.