Dead Can Dance – Live auf der Freilichtbühne im Stadtpark Hamburg am 19. Juni 2013

Von Matthias Bosenick (21.06.2013)

Haben wir alles? Decke, Weißwein, Becher, Teller und Besteck; eine Stange Weißbrot, Grissini, Sour Cream, Arla Buko mit Bärlauch-Pesto, Pesto Rosso, Antipasti aller Art, eine Tüte Mandeln, ein Pfund Erdbeeren. Ja, wir haben alles. Alles, was man braucht, um an einem heißen Hamburger Sommertag im Park zu Livemusik chillen zu können. Okay, also gehen wir los, in den Stadtpark, am schlauchartigen Eingang zur Freilichtbühne gibt es zwei schmale Grünstreifen, auf denen sich sommers alljene niederlassen, die nicht den Eintritt zur Freilichtbühne entrichten, aber trotzdem die Musik erleben wollen. Heute spielen Dead Can Dance, die Sonne glüht, Hamburg schmilzt, wir haben Picknickhunger. Auf dem Grünstreifen vor dem Eingang finden wir mit Leichtigkeit Platz, laut Inga so kurz vor Beginn der Veranstaltung eigentlich recht ungewöhnlich. Wir errichten unseren Picknickplatz zwischen zwei locker voneinander entfernten Gruppen und lassen den Strom der Ticketbesitzer an uns vorbei ziehen. Als wir die Weinflasche aus der Tasche holen, fällt uns auf, was wir vergessen haben: Den Korkendreher. Was tun? Per Mobiltelefon im Internet gucken, was man dann macht? Den Kugelschreiber nehmen, wie früher, und den Korken in die Flasche drücken? Oder unsere Nachbarn fragen: die beiden abgehalfterten Altpunks links oder das Paar mit dem Axl-Rose-artigen Tier als männlichem Part rechts? Wir entscheiden uns für den Axl-Typen. Mal sehen, was passiert.

„Habt ihr ein Taschenmesser mit Korkenzieher-App?“, frage ich das Paar. Er ist massig muskulös, trägt eine grünlichgelbe Sonnenbrille, ein minirocklanges Stirnband, lange Zotteln und ein Muskelshirt, das seine mannigfaltigen Tätowierungen offenbart. Sie sieht vergleichsweise normal aus, freundlich auf jeden Fall. Und freundlich sind sie beide. „Nein, eine Taschenmesser haben wir nicht“, sagt er, „aber wir haben einen Korkenzieher mit.“ Wie praktisch. Er kramt in der Tasche und fördert, ganz wie wir, eine Flasche Weißwein zutage, darunter den Korkenzieher mit einem Korken drauf, „gesafet“, wie er es erläutert. Einfallsreich, merken. Wir öffnen mit dem entsafeten Utensil unsere Flasche und bieten den beiden im Gegenzug von unseren Erdbeeren an. „Nein danke, ich bin satt“, sagt sie, und er bedient sich dankbar. Wir haben Verbündete für den Abend gefunden.

Die brauchen wir auch. Denn um uns herum ereignet sich in der Folge eine Art Fernsehprogramm mit schlechter Intendanz, wie Inga es auffasst. Die Altpunks gehen zunächst und hinterlassen ihre leeren Bierdosen. Es kommen: Eine Riesenhorde Überfünfzigjähriger, die sich massivst breit machen, grenzenlos in allem, sie rücken uns dicht auf den Pelz, sind laut, labern ununterbrochen, ziehen über den Abend weitere Überfünfzigjährige an, die sich dazuhocken und mitlabern, allesamt wie eine quietschvergnügte Heilpraktikerpraxis auf Betriebsausflug, debilfröhlich, laut Gesprächsfetzen, oder besser: Quasselemission regelmäßig bei Konzerten im Stadtpark draußen auf dem Rasen, „wie letztens bei Three Doors Down“ hört man oft. Auf der anderen Seite betten sich drei, vier Gruftis. Erstaunlich genug, dass Dead Can Dance in der Gruftiszene überhaupt am besten funktionieren und nicht so recht eine eigene Szene etablieren, will ich denken, werde aber vom Strom der Vorbeiflanierenden auf dem Weg zum Eingang und von unseren Nachbarn eines Besseren belehrt. Die Gruftis also sehen aus, wie Gruftis eben aussehen, Undercut hier, Schnallen dort, und ein flatterhafter Minirock mit einem dicklichen… Moment: Typen drin… Okay. Ich kann es ja verstehen, dass man, wenn man als Mann die Neigung hat, sich weibliche Kleidung anzuziehen, diese auch gerne mal in der Öffentlichkeit anziehen mag, und in unserer Gesellschaft ist es bereits ein Aufgeben von Würde, wenn man als Mann weibliche Kleidung öffentlich trägt, anders als andersherum, da ist es egal, aber nicht hingegen verstehe ich, dass jemand dann gleich auch nur jedes letzte Bisschen Würde abzugeben bereit ist und sich so zurechtmacht wie dieser eine Typ da. Dicke schwabbelige Stampfer gucken aus dem schwarzen Flatterkleidsack heraus, der knapp über dem Schritt aufhört. Jedes Mal, wenn er sich hinsetzt, und dazu den Schneidersitz einnimmt, verdunkelt sich die Sonne, was ihm vielleicht sogar ein Anliegen ist, schließlich ist er ein Grufti. Kein schöner Anblick in jeder Hinsicht. Die Gruftgruppe vermehrt sich über den Abend zusehends, ein Schausitzen der Bandshirts und X-Trax-Stangenware.

Dann geht plötzlich vor uns etwas sehr Schnelles ab. Eine Frau in einem Liegedreirad bremst vor uns und labert ins Nichts. Nein, tut sie nicht: Der Mann mit dem Fahrrad samt Anhänger ein paar Schritte weiter gehört zu ihr. Beide tragen latent sportliche Kleidung, die farblich jeweils sowas von gar nicht zusammenpasst, jedes Kleidungsstück eine andere Farbnote, vom Shirt zu den Shorts zu den Schuhen und auch zu seiner Baseballkappe, die ihn wie Chevy Chase in der Parodie eines typischen US-Amerikaners aussehen lässt. Sie trägt sogar eine helle Strumpfhose unter den Shorts, er zumindest an einem Bein, Sportunfall wahrscheinlich. Auf der Wiese bei uns errichten sie in irrwitziger Eile eine Decke und einen futuristischen Klappstuhl, an dem Baum mit seinem Fahrrad einige Schritte weiter entzünden sie einen Grilleimer und stellen einen Holzschemel davor. Das sieht doch mal nach Entspannung aus. Zuletzt quetscht sich ein recht junges Paar in die eine verbliebene Lücke. Er trägt Dreitagebart und Hilfiger-Shirt, sie rosaweißkarierte Hotpants, beide Pornosonnenbrillen. Sie sehen chartskompatibel aus – und machen am Ende als einzige um uns herum das Beste, was man zu der Musik von Dead Can Dance machen kann: Sie liegen sich entspannt in den Armen, dösen und lauschen.

Die mäandernde Reihe der Einlasssuchenden offenbart auch so manche Überraschung. Die zwei im Iron-Maiden-Shirt merken schnell, dass sie zur O2-Arena müssen, und kehren um. Wir lassen den Marsch wie eine Werbeeinblendung an uns vorüberziehen, trinken Wein, essen das, was wir mitgebracht haben, und freuen uns über das schräge TV-Programm, das um uns herum passiert, und über die Musik, die endlich losgeht.

Dead Can Dance eröffnen ihr Set mit dem für Gruftis programmatisch betitelten „Children Of The Sun“. Der Sound ist auch über die Hecke hinweg okay und nicht wesentlich anders als auf der jüngsten Live-Platte „In Concert“. Man spürt erfreulich deutlich die Bässe im Rasen, die ausdrucksstarken Stimmen von Lisa Gerrard und Brendan Perry kommen enorm gut herübergeweht. Die Stimmen sind letztlich auch das Leibhaftigste an dem Konzert, wie auch auf der Live-Platte ist die Musik vergleichsweise zahnlos, blutleer, oder besser: wie gehäutet, ohne das struppige Fell, das noch auf dem ersten Livealbum „Towards The Within“ und den Studioalben sowieso zu hören war. Hörbares Fell. Die Songs an sich sind natürlich geil, erstaunlich viele vom letzten Album vor der mehrjährigen Pause, „Spiritchaser“, eher verschmäht bei Fans, unverdient. Die Stücke, die vom Comeback „Anastasis“ dazwischenrutschen, lassen es dagegen an Originalität vermissen. Trotzdem, beseelte eindreiviertel Stunden lang machen DCD eine Musik, die überhaupt zu veröffentlichen schon mutig ist, bisweilen ganz ohne Beat, nur Stimmen und Keyboard, wie „Sanvean“, und oft langsam wirkend, aber extrem groovig, besonders im Falle der älteren Stücke. „Das ist älter“, stellt eine Ü50-Nachbarin korrekt beim Intro eines älteren Stückes fest. „Das ist älter“, mutmaßt sie lautstark. „Ja, das ist älter“, bekräftigt sie fortwährend, weil die anderen in ihrer Gruppe einfach das machen, was sie die ganze Zeit über machen, nämlich andere ignorierend herumquasseln. Und sie lässt nicht locker, den Fakt immerzu festzustellen. Derweil erinnern sich ihre unerschütterlichen Sitzbegleiter, wie es bei Three Doors Down war. Die Grillsportler haben derweil Zuwachs bekommen, zwei Freundinnen der Frau lümmeln sich mit ihr auf der Decke herum, zu Füßen des Hi-Tech-Klappstuhls. Chevy Chase rührt ab und zu abseits auf dem Schemel sitzend mit der Zange im brennenden Kohleeimer herum. Beim Blick in die Grillgutbox stellt er bestürzt fest, dass die Thüringer fehlen. „Dabei habe ich mich so auf Thüringer gefreut“, mault er. Er hat schnell keinen Bock mehr und lässt sich das auch anmerken, was seine Frau allerdings gar nicht interessiert. Als das Grillgut fertig ist, kauert er sich auf den Schemel am Grilleimer und schaufelt sich vornübergebeugt im Eiltempo die Speisen in den Magen. Nach einer Weile ist seine Frau mit dem gleichen Speedprozedere an der Reihe. Die wissen eindeutig, wie man es sich gutgehen lässt.

Die Gruftis vermehren sich derweil per Zellteilung. Den Typen im Nicht-Kleid drängen sie reichlich beiseite, so tolerant sind nur Gruftis, da kann er sich abzappeln, wie er will, und er will sich abzappeln, kein schöner Anblick, dabei bleibt’s. Sie sind natürlich allesamt wegen der Musik da, ganz klar, so sehr, wie sie DCD zuquatschen. Unser Axl-Paar macht von sich gegenseitig fröhliche Fotos mit seinen iPhones. Das junge Paar lauscht liegend, wir auch. „Hast du die Augen zu?“, fragt Inga mit geschlossenen Augen. Habe ich nicht, ich lasse den dunkler und wolkiger werdenden Himmel auf mich wirken, und die gelegentlichen tieffliegenden Jumbojets aus Fuhlsbüttel. Und ich höre den groovenden Rhythmen zu. Und Perrys Wortbeiträgen: „Danke“, „Dankeschön“, „Habt vielen Dank“. Die beiden ansonsten vornehmlich Singenden haben aber auch sowas von tolle Stimmen.

Das Brot haben wir längst aufgegessen, auch der Wein ist alle. Ich hole Bier vom Bierwagen, den der Veranstalter schlauerweise außerhalb des Konzertgeländes aufbauen ließ. Erdbeeren und Bier, das geht wohl. Aus den Augenwinkeln sehe ich, dass unser Axl-Freund sein iPhone in unsere Richtung hält. „Nein, du nicht“, ruft er breit grinsend, als er meinen Blick sieht. Er fotografiert über uns hinweg die Gruftigruppe. Axl und ich kommentieren ab und zu kryptisch, aber laut und deutlich unsere Sicht auf die Dinge um uns herum und grinsen uns einen.

Die Sportgrillerin hat jetzt Platz auf ihrem Klappthron genommen, Chevy Chase steht hinter ihr und hält nervös eine Hand auf ihrer Schulter. Die Queen quatscht mit ihren beiden erniedrigten Freundinnen und ignoriert demonstrativ, dass Chevy längst weg will, obwohl die Musik noch läuft. Schon lange hat er die Ausrüstung in seinem Fahrradanhänger verstaut. Bei den Gruftis und den Ü50ern ist Halligalli, auch ihnen ist die Musik egal. Das Teeniepaar kuschelt, unsere Axl-Verbündeten umschlingen sich vergnügt. Ich will weiteres Bier holen, doch behaupten die Mädels vom Bierwagen, Fassbier sei alle, ich könnte Hefeweizen oder Radler aus Flaschen bekommen. Das klingt nicht gut, also hole ich zwei Flaschenbiere, die leider nicht Astra sind, aus dem Kiosk am anderen Ende der Rasenfläche, der einladend im Parkdunkel – es wird Nacht in Hamburg – vor sich hin leuchtet.

Da ist dann das Konzert auch vorbei. Um uns strömen schweigende Massen herum, unsere Nachbarn sammeln sich zum Aufbruch und brechen auch auf, die Sportgriller sind so schnell weg, wie sie gekommen waren. Das Axl-Paar und wir sind die letzten, die den ersten Regentropfen standhalten; wir verabschieden uns herzlich. Regen, ist doch egal, ist sogar schön nach so einem heißen Tag, wir haben es nicht weit, hatten ein schmackhaftes Picknick, sympathische Livemusik, definitiv viel Spaß und immer noch keine Eile. „Rakim“ bleibt im Ohr als Soundtrack zu dem vierstündigen Platzregengewitter, das wir danach vom Balkon aus betrachten. Das ist mal Lightshow, die Blitze flashen uns.

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