2004 Oktober, Gründung von KrautNick
Seit zwei Jahren schrieb ich keine Musik- und Film-Rezensionen mehr für das Wolfsburger Stadtmagazin „indigo“. Sieben Jahre lang hatte ich diesen ehrenamtlichen Job, weil ich mit einem Freund 1995 an einem Wettbewerb des Magazins teilnahm und unsere Antwort auf die Frage, was Wolfsburg außer einem überteuerten Tunnel in der Innenstadt noch bräuchte, eine Liste mit 75 absurd-beknackten Vorschlägen einreichte und uns die Redaktion zur Preisübergabe in ihr Büro einlud. Dabei stellte sich heraus, das besagter Freund Micha mit der regional weltberühmten Band Die Trottelkacker befreundet war, und man beauftragte uns damit, jene für das Heft zu interviewen. Beim Abtippen in der Redaktion wiederum fragte man uns, ob wir nicht die Kino-Seite für das Magazin übernehmen wollten. Micha nicht, ich ja, holte Guido mit ins Boot und wir schrieben zusätzlich noch CD-Rezensionen. Guido ging recht bald wieder an Land, ich erst 2002, als das Blatt von einem anderen („Subway“, Braunschweig) aufgekauft wurde und man meine Position strich.
Zwei Jahre später fragte mich Olaf Krautwurst, den ich einige Jahre zuvor als Musik-Verkäufer (Salzmann) und später als Musiker (Inside Agitator) und DJ kennen gelernt hatte, ob wir nicht ein Online-Magazin gründen wollen – na klar hatte ich Bock drauf! Wir benannten es quasi nach uns selbst, sein Kraut und mein Nick, er bastelte eine html-Seite und wir posteten munter unsere Empfehlungen. Oktober 2004 – KrautNick war geboren. Olaf verließ das Zweier-Team jedoch nach einem Dreivierteljahr bereits und kehrte bisher letztmals 2016 für eine Rezension zurück.
2005 LCD Soundsystem – LCD Soundsystem (DFA/Capitol/EMI)
Nach dem Jahrtausendwechsel hatten es neugegründete Bands sehr sehr schwer, bei mir zu punkten. Diese ganze Welle der Indierock-, Indiedance- und The-Bands erreichte mich künstlerisch und emotional gar nicht, die apostrophierte Rettung des Rock’n’Roll war ein uninspiriertes Retro-Geschäft und Indie das neue Mainstream. Oder umgekehrt. Plötzlich grätschten LCD Soundsystem von der Seite in den Lauf – ja, auch deutlich retrofixiert, aber James Murphy und die Seinen generieren aus den Vorlagen, die sie deutlich benennen, einen eigenen Sound, der Elektronik mit Rockmusik kombiniert und den aufkeimenden Electroclash begleitet. Wichtig ist es, das selbstbetitelte Debüt als Doppel-CD zu erwerben, da sind noch frühere Singles mit drauf, unter anderem die beiden Versionen von „Yeah“. Anders als viele Neugründungen nach dem Jahr 2000 blieben LCD Soundsystem auf konstant hohem Niveau. Später durfte ich meine Haltung zu neuen Bands revidieren – als ich den Post Black Metal entdeckte und als KrautNick bei eher unbekannten Musikschaffenden ein Ziel für Promotion wurde und ich kleinste Bands aus aller Welt und aus allen Genre-Schubladen neu entdecken durfte. Danke euch allen!
2006 Pet Shop Boys – Fundamental/Fundamentalism (Parlophone)
Mal wieder ein durchweg gutes Album der Pet Shop Boys, und nicht das letzte, die gibt’s jetzt seit 40 Jahren und genau so lang sammle ich sie schon. Um diese limitierte Doppel-CD (mit „The Sodom And Gomorrha Show (Trentemøller Remix)“!) zu bekommen, brauchte ich jemanden mit Kontakten. Da es in Braunschweig zu dem Zeitpunkt keine Plattenläden mehr gab, die nicht zu irgendwelchen Ketten gehörten, nutzte ich das Online-Angebot von Chris, der mir dieses Album über seine internationalen Kontakte besorgte. An einem schönen Sommertag überreichte er es mir auf der Straße, weil er keine Verkaufsräume hatte. Noch nicht – was wir beide nicht wissen konnten: Kaum anderthalb Jahre später würde er einen Laden haben, zusammen mit André eröffnet er das Café Riptide. Aber erstmal ist ja noch Fußball-WM der Männer und ich bin in einer für mich selbst überraschenden Fußball-Partystimmung und gucke mir Spiele im Merz, in der Okercabana und sonstwo an. Das nächste Knaller-Album der Pet Shop Boys wird für mich übrigens 2013 „Electric“ sein.
2007 Riptide-Blog, Indie-Ü30-Party, Fotoausstellungen
Ein Jahr der Umbrüche für mich: Entgegen meiner mitgegebenen Natur kündige ich bei VW, heuere als zunächst nur freier Schreiber bei der WAZ in Wolfsburg an, beginne fürs neu gegründete Café Riptide den Blog zu schreiben, habe meine erste Foto-Ausstellung im Friseursalon Haarwerk und starte mit Henrik die Indie-Ü30-Party im Nexus. Im Jahr zuvor organisierte ich im B58 mein erstes Konzert, das KrautNick-Festival, mit Die Weltenretter, Müller & die Platemeiercombo, Tanzende Kadaver und die spontan für Hoax eingesprungenen WKA, die ihr letztes Konzert gaben vor dem Tod von Konrad K.; die Organisation erfolgte mit der Hilfe von Olaf – der mir auch das Auflegen beibrachte. Konzerte veranstalten hat sich nach ein, zwei weiteren Malen als nicht so sehr meins herausgestellt, die Indie-Ü30-Party ruht seit Corona, nach vier weiteren Ausstellungen verliere ich das Interesse an Fotografie (Flickr und Instagram machen das Medium für mich beliebig) – aber der Rest blieb im Grunde: Der Riptide-Blog lebt fort (über 200 Einträge, einmal im Monat), zum Auflegen habe ich Rille Elf (siehe 2015) und irgendwas mit Kultur geht immer (Silver Club, WRG-Kulturtage, sowas, alles später im Leben).
2008 Manic Street Preachers – Umbrella (Sony/BMG)
Weil die Indierock-Waliser bei den NME Awards 2008 einen Preis gewannen, waren sie dazu aufgerufen, einen Song zur dazugehörigen Compilation beizutragen. Kurzerhand spielten sie den quäkigen Rihanna-Hit „Umbrella“ in ihrem eigenen Stil ein, ca. „If You Tolerate This“. Geht mir Radiomusik mehrheitlich seit 1990, 1991 bis heute und vermutlich auch in Zukunft auf sämtliche verfügbare Kekse, stellte ich erst durch die vielen Neuaufnahmen dieses Songs fest, dass es oftmals die Darbietung ist, die es verhindert, dass mir gute Kompositionen auch als solche auffallen. Manchmal sind Cover eben doch besser als die Originale.
2009 Oktober, Eintritt in den Silver Club
Weil Chris vom Riptide dort als DJ eingebunden war, besuchte ich den vierten Silver Club – dabei handelte es sich um eine ehrenamtliche und nichtkommerzielle Veranstaltungsreihe, die dreimal jährlich an wechselnden Orten stattfand, die für solche Shows gar nicht vorgesehen waren. Diese Ausgabe nun trug sich in der früheren Krabbenkuppel zu, einem nur über eine enge Wendeltreppe erreichbaren Gewölbekeller, in dem zuvor ein griechisches Restaurant residierte und einige hundert Jahre davor eine französische Botschaft, weshalb Frankreich auch das Thema des Abends war. Keine Ahnung, was mich ritt: Ich suchte den Verantwortlichen, fand ihn jedoch nicht und verabredete mich später mit ihm via Myspace im Riptide. Skapino rückte mit einer Bewerbungsmappe an, um mich vom Mittun zu überzeugen, und hatte dies gar nicht nötig. Es begann eine extrem geile Zeit mit tollen Menschen, grandiosen Partys und jeder Menge Arbeit – Auf- und Abbau flankierten jede Show, das waren quasi zwei Umzüge pro Veranstaltung. Mal war ich außerdem Türsteher, mal DJ, mal Gläser- und Flaschensammler, mal zeigte ich Fotos. Die Abenteuer, die wir erlebten, strahlen bis heute nach. Nicht nur darin, dass das neue soziokulturelle Zentrum, das Kufa-Haus, die direkte Folge einer Silver-Club-Veranstaltung war. 2016 implodierte der Club; verfügbare Räume wurden knapper, Sicherheitsauflagen waren nicht mehr zu stemmen, die innere Struktur wankte. Dennoch, sobald sich ehemalige Mitglieder begegnen, geht das Schwärmen los. Die Idee, eine finale Show zwingend logisch im Kufa-Haus auszurichten, schwebt beständig über den Okerwassern.
2010 Die drei ??? und der dreiTag (Eurpopa/Sony)
Dieses dürfte das letzte richtig gute Hörspiel aus Rocky Beach sein, danach gab es möglicherweise vereinzelt noch ein, zwei okaye, der Rest ist ziemlicher Müll geworden. Leider. So kriegt man eine Kult-Reihe kaputt. 2005 setzten die Hörspiele wegen eines Rechtsstreits aus, 2008 wurde der beigelegt, in der Zwischenzeit gab es Hörspiele ohne Buchvorlage unter dem Seriennamen „Die DR3I“ – und der vorliegende „dreiTag“ ist der Quasi-Abschluss dieser bis heute nirgendwo online verfügbaren Interims-Hörspielreihe um die drei Detektive. Und die ist experimentell: Ausgehend von einer umgekippten oder nicht umgekippten Cola in einer Frittenbude, setzt sich die Story so „Lola rennt“-artig auf drei unterschiedliche Weisen fort. Details aus den jeweils anderen Fällen finden sich in allen Storys, dazu wiederkehrende Nebensächlichkeiten, die gar nichts mit der Handlung zu tun haben, aber die Geschichten bereichern. Die dazu auch noch mehr als nur gut sind, was daran liegen muss, dass die Skripte mal nicht von André Minninger sind. Hab ich auf Dreifach-Vinyl. Wann vom Vollplaybacktheater?
2011 Devin Townsend Projekt – Ghost/Deconstruction (HevyDevy/Inside Out)
Der DTP-Doppelknaller aus „Addicted“ und „Ki“ ist gerade zwei Jahre alt, da reicht Dev den nächsten Doppelknaller nach. „Deconstruction“ ist ein schwer zugänglicher Brocken mit dem energetischen Metal-Hit „Juular“ und dem schwerverdaulichen viertelstündigen Experimentalstück „The Mighty Masturbator“, das es zum Jahresende nochmal fünf Minuten länger als „Traestorz“ auf der „Contain Us“-Box gibt. „Ghost“ hingegen ist der Ambient-Gegenentwurf mit Flöte, die vertiefte Quasi-Fortsetzung von „Ki“. Wiederum allein steht als viertes „Addicted“ da, mit seinen von Anneke van Giersbergen mitgesungenen grandiosen Pop-Metal-Stücken. Für Arni und mich stellen diese vier Alben, flankiert von denen von The Young Gods, eine Seelentröstung dar, in Zeiten der Abwesenheit unserer jeweiligen Lebensbegleiterinnen.
2012 2. November, Gojira, Pumpehuset, Kopenhagen
Ein Elend: Ich bin in Kopenhagen, meine Neuentdeckung Gojira spielt, es ist ausverkauft – und ich habe kein Ticket. Rechtzeitig stehe ich vor dem Venue, um Leute abzufangen, die eines loswerden wollen, aber mehr als freundliches Mitgefühl ist nicht drin. Bis ich auf Kenn treffe, der ebenfalls ein Ticket sucht, und anstatt mit mir in Konkurrenz zu treten, gleich für mich mit die Leute anspricht. So ist er auch der erste, der eines bekommt, und dennoch an meiner Seite bleibt, bis auch ich eins habe. Was tatsächlich geschieht, mit nachhaltigem freundschaftlichen Effekt, tak skal du har. Glücklich mische ich mich also unter die 600 Gäste, von denen mich gefühlt jeder dritte freudig begrüßt, weil ich ihn zuvor angequatscht hatte. Und dann ist der Auftritt auch noch geil! Und der Anfang von übergroßen Veränderungen in meinem Leben.
2013 Paolo Sorrentino – La Grande Bellezza
Habe ich den Film verstanden? Keine Ahnung, ist auch vollkommen egal: Er ist ein Rausch, noch besser als „Il Divo“ und „Cheyenne (This Must Be The Place)“. In einem Jahr mit vielen tollen Filmen („Only Lovers Left Alive“, „Heima“, „Gravity“) der beste, der zudem damit übereinfällt, dass ich erstmals komplett allein für zehn Tage in den Urlaub fahre, und zwar nach – so ein Zufall – Italien, Ligurien, was ich danach noch bisher fünfmal wiederhole. Italien, auf der Leinwand so geil wie in echt, aber anders. Im Film ist ja Rom, nicht Genua. Auf diesen Reisen beginne ich überdies, in lokalen Plattenläden explizit nach Musik zu fragen, die aus genau der Gegend kommt, in der ich mich gerade aufhalte. So entdeckte ich in Genua Mope und Lou Dalphin und in Savona Anuseye – und The Grand Astoria aus St. Petersburg, deren LP „The Mighty Few“ Label- und Shop-Betreiber Davide mir in die Hand drückt, Jahre bevor mich Anton aus Moskau von deren Ur-Label addicted/noname erstmals kontaktiert, um mir seine Musik schmackhaft zu machen. Beide Freundschaften dauern an.
2014 17. Januar, Stop Making Sense, Universum-Kino & Café Riptide, Braunschweig
Von allen Kinoerlebnissen, die ich hatte, und das waren nicht ganz so wenige, dürfte die Wiederaufführung des Konzertfilms „Stop Making Sense“ von Jonathan Demme und mit den Talking Heads die denkwürdigste sein. Eigentlich war der Film zu dessen 30. Geburtstag lediglich für den Heimgebrauch neu aufgelegt worden, doch holte sich Organisatorin Beate das Okay aus New York, ihn außer der Reihe in der Reihe „Sound On Screen“ von Universum-Kino und Café Riptide zeigen zu dürfen. Das Kino war ausverkauft – und schon beim ersten Song „Psycho Killer“ riss es die Leute aus den Sitzen. Wir feierten die Band, als stünde sie leibhaftig vor uns. Ein Wunder, dass das Kino noch steht! Zehn Jahre später, also kürzlich erst, kam der Film zum 40. Geburtstag offiziell nochmal ins Kino, aber da war die Stimmung etwas verhaltener. Nicht nur der Film ist älter geworden, wir sind es schließlich auch.
2015 Herbst, Gründung von Rille Elf
Nachdem mich nunmehr drei Leute fragten, ob man nicht einen Verbund von lokalen alternativen Schallplattenunterhaltenden ins Leben rufen wollte, griff ich die Gelegenheit beim Schopfe und lud jene drei und einige weitere mir gut bekannte Braunschweiger DJs zu einem Beschnuppern ins Gambit ein. Eigentlich sollte es lediglich ein loses Netzwerk werden, innerhalb dessen man sich über Aufträge und sonstige Themen austauscht, doch gleich beim Gründungstreffen einigten wir uns nicht nur auf den Namen Rille Elf – Rille wegen Vinyl und Elf, weil man es Braunschweigisch „Ölf“ aussprechen kann –, sondern auch auf eine Veranstaltung, Idee von Lür: Tanztee am Sonntagnachmittag im Keller des veganen Restaurants und Veranstaltungsortes Tegtmeyer. Betreiber Timo war einverstanden, wir behielten die Party bis zur Schließung seines Ladens bei. Parallel etablierten wir die Reihen „Ball im Bierhaus“ in Harrys Bierhaus und „Burning Beats“, zunächst im Nexus, bald im Kufa-Haus, und lassen uns nach wie vor liebend gern zu Sonderaktionen einladen; in diesem Jahr waren die beiden Engagements im Rahmen des Lichtparcours’ die größten Perlen. Nach kurzer Zeit etablierte sich eine feste Gruppe von vier DJs, die nunmehr Rille Elf sind: Olli, Günther und ich seit Anbeginn, Uwe rückte später nach. Ich bin rasend glücklich, diese drei Freunde gefunden zu haben, die wie ich Musik auflegen, weil sie darauf Bock haben und Leuten eine schöne Zeit bescheren wollen.
2016 Blinky Blinky Computerband – For A Better World (BBCom Music)
Was Olaf macht, wenn und weil er nicht für KrautNick schreibt: elektronische Musik. Nachdem er Inside Agitator beendete, rief er 2012 Blinky Blinky Computerband ins Leben. Bei einigen seiner Songs durfte ich schon Stimme sein und einen eigenen Text vortragen, für das neue Album „For A Better World“ war es das Stück „Ich will nicht tanzen“, dessen Text mir – wie so oft – beim Hören seines Demos spontan einfiel. Außerdem brachte ich Arni und damit eine echte E-Gitarre in das Projekt ein, zu hören bei fast der Hälfte der 17 Stücke. Im Herbst präsentierte Olaf das Album beim „Strange Electro Pop Festival“ live im Tegtmeyer, Arni und ich ergänzten das Line-Up, als vierter war Henning, eigentlich bei Synergy, dabei; wir beide standen schon einige Male bei Inside Agitator zusammen als Keyboard-Dummys hinter Olaf. Mit Darrin Huss trat zudem für den gemeinsamen Song „Up Close“ ein prominenter Gast ans Mikro, der anschließend mit seiner Band Psyche einen denkwürdigen Auftritt – und sich selbst, auf den Bühnenteppich, das ist voller Körpereinsatz – hinlegte. Killing Machine!
2017 The Duffer Brothers – Stranger Things (Netflix)
Zum Jahreswechsel änderte sich mein Beziehungsstatus letztmalig, und in diesem Zuge noch so einiges. Irgendwann im Verlauf des Frühsommers motivierte mich Andrea dazu, mit ihr „Stranger Things“ zu gucken. Bei nur einer Staffel kostete es mich weniger Überwindung, mich darauf einzulassen, und gleich nach der ersten Episode war ich gefangen. Charaktere, Stil, Story, Musik, der Mix aus Übernatürlich und Real, alles überzeugte mich. Staffel 2 war später nur noch zu zwei Dritteln gut und dann furchtbar, Staffel drei war komplett furchtbar und Staffel vier der ersten mindestens ebenbürtig, kurios. Wir freuen uns auf die Rückkehr von Eddie Munson. Sonst gucken wir Staffel fünf nicht!
2018 De Staat – Kitty Kitty (Caroline)
17. August 2018. Beim 13. Ball im Bierhaus legt Günther erstmals „Kitty Kitty“ von De Staat auf. Mein Leben wird nie wieder so sein wie davor. Diese rollend aufsteigende Basslauf! Diese knallenden Drums! Dieser abgehackte Gesang! Diese komplett unkonventionelle Struktur, in Intensität und Verlauf allerhöchstens vergleichbar mit „New Noise“ von Refused oder „Jeg skal dø ved Arresø“ von Bleeder, die ebenfalls so ein unerwartbarer Mix an Stilen und Abläufen sind. Dieser Break vor dem Höhepunkt, der dann doch nicht kommt, jedenfalls nicht sofort, mit Verzug, dieses Hinhalten, und dann diese explosive Wucht. Mit Erschüttern hörte ich im Jahr darauf das dazugehörige Album „Bubble Gum“ und war ob dessen Plastikanmutung entsetzt. Die Liebe zur „Kitty Kitty“ blieb von dem Entsetzen indes unbeleckt. Als Guido mir das ältere „Witch Doctor“ vorspielte, änderte ich meine Haltung zu De Staat wieder. Und das Glücksgefühl, als Guido und ich De Staat 2023 in Hannover live sahen und ich mich in den Hexenkessel von „Witch Doctor“ einfügte, ist nur schwer zu überbieten.
2019 27. November, Shihad, G2, Glasgow
Ein Jahr voll mit herausragenden Ereignissen. In Wolfsburg im Kulturzentrum Hallenbad fanden gleich zwei für die lokale Subkultur wichtige Festivals statt: eines zur Ausstellung „Soundtrack Wolfsburg“ über 50 Jahre Rock’n’Roll in der Stadt, zu der ich versehentlich nicht nur Exponate beisteuerte, sondern auch Ausstellungstexte, und das „Open Arsch (Closed)“, das an die anarchischen Konzerte rund um Die Trottelkacker in Rümmer auf der Schweineweide erinnerte. Schepper und ich kombinierten sein Solo-Bassspiel und meine Riptide-Blogeinträge aus dem Buch „Die Stadt ist eine Erbse“ in der Einraum-Galerie. Im Bei Chéz Heinz in Hannover spielten Der Weg einer Freiheit, die ich zum dritten Mal sah, und im Vorprogramm A Secret Revealed, deren LP mir Andrea später schenken und damit meinen Horizont enorm erweitern würde. Und: Mit Olli aus Hamburg, den ich viele Jahre zuvor bei eBay kennengelernt hatte, echt!, reise ich für fünf Tage nach Edinburgh, weil wir in Glasgow eine der Bands sehen wollen, die uns eint, nämlich Shihad aus Neuseeland. Als die 1994 im Brain spielen, kann ich sie nicht sehen, bekomme aber 1995 auf dem Roskilde Festival die Chance – und bin sofort verliebt. Auf Shihad aufmerksam wurde ich, weil Jaz Coleman von Killing Joke sie quasi entdeckt und produziert hatte und weil sie Faith No More auf Tour begleitet hatten. Europa vergisst die Neuseeländer bald, deshalb sind in Glasgow im G2 auch nur eher wenige Leute anwesend – aber die umso beseelter, ebenso die Band. Ein Kracher von einem Konzert, chronologisch rückwärts beinahe vollständig durch alle Alben, publikumsnah bis hin zu Gesprächen mit allen vier Musikern nach dem Gig. Schottland mit Olli war ein Abenteuer! Danach kamen Brexit und Corona.
2020 20. Juni, Die Stadtfinder mit Fly Cat Fly und Rille Elf, Gelände der Musikschule Braunschweig
Weil ja coronabedingt Veranstaltungen indoor schwierig sind, freuen wir uns, dass uns Die Stadtfinder für den Abschluss ihrer Outdoor-Kultur-Tour-Aktion rund um den Braunschweiger Lichtparcours buchen: Rille Elf legt im Anschluss an ein Konzert von Fly Cat Fly auf. Die kenne ich nur namentlich, anders Günther, der mit Cord bei Syrincs gearbeitet hatte, wie so viele andere Braunschweiger ebenfalls, was die beiden allerdings erst an dem Abend begreifen. Die Musik des Ehepaars Fly Cat Fly haut mich aus dem Stand um, das bis dahin neueste Album „Let’s Hear It For The Chosen“ rückt in meine Alltime-Bestenliste auf und es entsteht eine Freundschaft zwischen den beiden und uns vier: Günther legt 2022 im Kufa-Haus beim Zehnjährigen des Duos auf (ich bin krank, ratet) und ich bekomme 2024 die Gelegenheit, das im September veröffentlichte Album „Freaks“ exklusiv vorab hören und rezensieren zu dürfen. Klar: ist geil!
2021 19. Juni, Die Müller-Verschwörung, Spunk, Braunschweig
Die Pandemie hat die Welt seit mehr als einem Jahr im Griff, wer kann und oder Ideen hat, verlagert seine kulturellen Aktivitäten. Konzerte finden im Internet statt, die Indie-Ü30-Party dankenswerterweise auf Radio Okerwelle, unter freiem Himmel geht nur wenig, und wenn, dann nur mit Auflagen. Mit Rille Elf etablieren wir beispielsweise ein „Betreutes Trinken mit Musik“ draußen neben Harrys Bierhaus, also keine als solche deklarierte Party, weil tanzen geht ja nicht. Das erste Konzert des Jahres erleben wir von der Müller-Verschwörung, ehemals Müller & die Platemeiercombo, auf dem Hof vor dem Spunk. Da Andrea noch nicht kontergeimpft ist, bleiben wir vor dem Zaun und haben dennoch größtmögliche Freude an dem Auftritt. Die Sonne scheint, wir sitzen auf den Steinen am Ringgleis, trinken Bier, hören die wunderbare Musik und winken Bekannten über den Zaun hinweg zu. Herrlich!
2022 KrautNick wird zum Trio
Zwar freute sich KrautNick immer wieder über Beiträge von Gastautoren, doch kam es nach Olafs frühem Ausstieg erst 2022 wieder dazu, dass zwei feste Schreibende die Plattform erweitern: Guido Dörheide und Onkel Rosebud. Letzterer setzt auf KrautNick seine in den Neunzigern in dem Dresdener Studi-Magazin „ad-rem“ begonnene Kolumne „Was meine Freundin gerne“ alternierend mit „hört“ und „sieht“ fort, ersterer lässt seinen Gedanken zu Musik, Film und Buch freien Lauf. Guido und ich sind seit unserer ersten gemeinsamen Unterrichtsstunde (Geschichte) am Gymnasium Hankensbüttel Freunde. Auf den Onkel wurde er 1999 im Zuge einer Rundmail aufmerksam, in der jener Beitragende zu einer Musiktextanthologie suchte und wir diesen Beitrag leisteten. Zur Veröffentlichung von „Ich liebe Musik“ reisten wir nach Dresden, trafen den Initiator und viele andere Beitragende – und verloren den Onkel danach aus den Augen. Bis er fast 20 Jahre später für den zweiten Teil virtuell an mich herantrat – und die Release-Party den Corona-Bedingungen zum Opfer fiel. 2022 reiste ich spontan nach Dresden und kontaktierte die am zweiten Band Beteiligten, nämlich den Herausgeber und den Verleger, und verbrachte jeweils wunderbare Stunden mit beiden. Aus denen engere Zusammenarbeiten erwuchsen: Für den Verleger (Windlust), Labelbetreiber (Head Perfume Records) und DJ (Cramér) René verfasse ich Rezensionen – und der Onkel stieg bei KrautNick ein. Bei Guido war es eine Veränderung in den Lebensumständen, die ihm Zeit und Möglichkeit boten, seine Eindrücke beim Kulturkonsum schriftlich zu vertiefen, und das exklusiv für KrautNick. Herzlichst willkommen, ihr zwei, und unendlichen Dank dafür, dass ihr den Blog bereichert!
2023 Hardy Crueger – Der Flussmann (CW Niemeyer)
Braunschweig hat jede Menge schreibende Bewohner, mit Andreas Reiffer zudem einen Verleger um die Ecke und aktuell gottlob auch endlich wieder eine Lesebühne, „Die Generalprobe“ im Kufa-Haus, zu der ich es aus zeitliche Gründen jedoch noch nicht schaffte. Meinen Braunschweiger Lesebühnen-Einstand hatte ich als Gast in den Neunzigern mit „Lemmy und die Schmöker“ im Antiquariat Buch & Kunst, bei der ich Hartmut El Kurdi, Gerald Fricke und Frank Schäfer entdeckte, natürlich neben den prominenten Gast-Stars und Star-Gästen. Die „Bumsdorfer Gerüchteküche“, später „Bumsdorfer Auslese“, in der DRK-Kaufbar mit Axel Klingenberg, Till Burgwächter, Marcel Pollex, Holger Reichard, Karsten Weyershausen, Roland Kremer und Dirk Schadt war die nächste Station. Die Stromgitarren-Lesungen von „Read ‘em All“, also Klinge, Frank und Till, folgten neben Poetry Slams und sonstigen Shows. Bis hin nach Wolfsburg, wo Sibylle Schreiber eine eigene Lesebühne etablierte. So temporär wie alle, leider. Von allen Autoren habe ich haufenweise Bücher in meinem Regal stehen. Gelegentlich trage ich auch selbst mal etwas zu Anthologien bei; „Die Entdeckung Amerikas“ von Holger und Karsten zum Beispiel, über die ich zudem als Autor auf Holgers Literatur-Blog Wortmax gelangte, oder „12×12“, das Subkulturmagazin von Marcel und Eileen Pollex, oder „Buchbauer Blütenlese“ von Toddn, der auch mein „Die Stadt ist eine Erbse“ verlegte. Auch überregional gibt’s Texte von mir, in Dresden in „Ich liebe Musik“ sowie in „A Prophecy Fulfilled“ über Killing Joke, in „All The Songs Sound The Same“ über The Wedding Present und in „From Obscurity To Oblivion“ über NoMeansNo. Und ganz manchmal habe ich die Ehre und das Glück, besondere exklusive Einblicke zu bekommen – „Das 3×8 der Liebe“ von Sibylle hätte es wohl über seine eigentliche private Bestimmung hinaus nicht gegeben, wenn ich nicht die 24 Texte vorab zu lesen bekommen und die Autorin zur Veröffentlichung motiviert hätte, und für seinen bislang letzten Thriller „Der Flussmann“ bat Hardy Crueger mich, ihn vorab zur Probe zu lesen. Das finale Buch hab ich natürlich auch sofort durchgebinget! Wann kommt Teil 2? In Artbeit ist er zumindest!
2024 Depeche Mode – Acht Alben 1981-1993
Ja, spät im Leben. In den Achtzigern feierte ich als Teenager die Maxi-Versionen der Radiohits, insbesondere derer von Synthiepopbands, weil darin so tolle Sachen passierten, für die in den Single-Versionen kein Platz war. Schon damals gefiel mir also experimentelle, progressive, unkonventionelle Musik, von der ich indes noch nicht ahnte, dass sie dies war, nämlich, war ja Chartsmusik und somit allen geläufig und allgemein akzeptiert. Viele der Songs von damals liebe ich bis heute, viele Bands von damals sammle ich bis heute, viele 12“es von damals kaufe ich mir bis heute nach, nämlich, damals hatte ich die Kohle nicht dafür. Depeche Mode fielen mir 1984 mit „People Are People“ erstmals ins Bewusstsein, also gleich mit dem bei den Einstürzenden Neubauten in die Lehre gegangenen Industrial-Knaller, von dem ich nicht ahnte, dass er es war, aber dessen extremer Sound mich Dreikäsehoch faszinierte. Von da an liebte ich alle Singles und eben Maxi-Singles, bis der Synthiepop 1990 verstarb und dem Kirmes-Techno wich. „Songs Of Faith And Devotion“ ist das letzte Album mit Alan Wilder und somit auch das letzte, das ich erwarb – alle Alben bis dahin auf CD und auf einen Schlag, ich war krank zu Hause und hatte Zeit. Nicht die einzige Band aus der Zeit, die in meiner Sammlung bis heute als Lücke existiert, es gibt noch einiges nachzuholen. Ach, und die „101“ fehlt mir noch, die würde ich aber auf Vinyl haben wollen. Oh, und im Oktober wird KrautNick 20 Jahre alt!