Guido Dörheide

20 Jahre KrautNick – 20 Songs aus 20 Jahren

Im Vorfeld der Radiosendung „20 Jahre KrautNick“ auf Radio Okerwelle 104,6 am 12.10.2024 bin ich beigegangen und habe 20 Songs aus 20 Jahren herausgesucht (in dem Wissen, dass die drei Stunden Sendezeit nicht ausreichen werden, um alle Songs zu spielen). Lesen Sie hier meine Begründung für die Auswahl und erfahren Sie, welche Songs es sendezeitbedingt nicht über den Äther geschafft haben (die gespielten habe ich mit einem Sternchen markiert):

*2004 – Denk – Bringts ma irgendwer a Achtl

Auf Birgit Denk bin ich mal durch Zufall im Urlaub in Südtirol gestoßen, als in einem Lokalradio „Hat net sein soll’n“ von ihr und Gert Steinbäcker (dem ersten „S“ von STS) gespielt wurde. Die damalige Familie war zumindest amüsiert (und eine der Töchter konnte ich eine Zeitlang für „Großvater“ von STS begeistern) – ich hingegen war hin, weg und verzaubert und bin bei Birgit Denks selbstbetitelter Band „Denk“ dann mal drangeblieben. Der Song mit dem Achtel ist eine tolle Coverversion von „Somebody Bring Me Some Water“ von Melissa Etheridge.

*2005 – The Fall – Pacifying Joint (Fall Heads Roll)

The Fall. Meine Lieblingsband. „Pacifying Joint“ vom großartigen 2005er Album „Fall Heads Roll“ hat alles, was ein Fall-Song braucht: Den typischen Gesang von Mark E. Smith, jede Menge Schrägheit und trotzdem irgendwie etwas Treibendes.

2006 – Neil Young – Let’s Impeach The President (Living With War – In The Beginning)

Wenn schon „Living With War“, dann am Liebsten die „In The Beginning“-Version ohne Chöre und sonstiges Gedöns. Das Album ist damals, glaube ich, nicht so sehr eingeschlagen, ich fand es aber toll und wichtig. Und an „Let’s Impeach The President“, der furiosen Abrechnung mit Geroge Dubyah Bush, führt hier kein Weg vorbei. Dass einige Jahre später ein widerlicher Wichser zum Präsidenten gewählt wurde, der das Schurkentum von Nixon, Reagan und Bush jr. noch um Lichtjahre in den Schatten stellen würde, konnte ja damals niemand wissen.

2007 – Happy Mondays – Dr Dick (Uncle Dysfunctional)

Na klar, die Happy Mondays aus Manchester haben mit „Bummed“ und „Pills’n’Thrills And Bellyaches“ ihre „Seargant Pepper’s“ abgeliefert, das nachfolgende (und gar nicht mal schlechte) „Yes Please!“ wurde enttäuscht aufgenommen und „Uncle Dysfunctional“ 15 Jahre später ging komplett unter, ist aber auch gar nicht mal schlecht. Setzen wir hier also mal den späten Mondays ein Denkmal.

Ich habe lange gezaudert ob der Auswahl des Songs, da das ganze Album unerwartet stark ist, und mich dann für „Dr Dick“ entschieden: Der langsame Einstieg mit der verdudelten Gitarre und dann Shaun Ryders superverschlurfter Gesang mit ihn ihm seinen typischen Mancunian-Dialekt, mit diesem Song mache ich nichts falsch, denke ich mal.

*2008 – Elvis Costello – Pardon Me, Madam, My Name Is Eve (Momofuku)

„Dedicated to Momofuku Ando – he fed those who studied“ – yess, alleine für diese Widmung an den Erfinder der Instant-Nudeln und Gründer der Nissin Food Corporation, Momofuku Ando, feiere ich dieses Album. Und es ist auch nicht Costellos schlechtestes – es hat Schmackes, geht ins Ohr und macht Laune ohne Ende.

„Pardon Me Madam, My Name Is Eve“ ist ein ruhiger Song, auf dem Costellos Stimme gut zur Geltung kommt und der mich irgendwie an seine frühen Sachen („Alison“ zum Beispiel) oder an sein stimmtlich und kompositorisch sehr überzeugendes 1994er Album „Brutal Youth“, das mich dereinst zum entschiedenen Befürworter Costellos machte, erinnert.

Auf den Umstand, dass es Momofuku Ando war, der die Instant-Nudel erfunden hat, machte mich übrigens niemand Geringeres als Dittsche aufmerksam, der dem zuvor Verstorbenen in seiner Sendung im Januar 2007 ein Denkmal setzte. Im Folgejahr zog Costello dann nach.

2009 – Element Of Crime – Kopf aus dem Fenster (Immer da wo Du bist bin ich nie)

Element Of Crime sind seit 1991, dem Jahr, in dem sie mit „Damals hinterm Mond“ begannen, komplett deutschsprachige Alben aufzunehmen, ein tolles Phänomen. Poetische Texte, teils rotziger Vortrag, viel Trompete und überhaupt viel von dem, was man im Deutschrock, im deutschsprachigen Alternative, im Postpunk, im Pop und sonstwo nicht erwartet. Ich habe hier mal das Eröffnungsstück des 2009er Albums der Berliner Kapelle um den Bremer Sven Regener herausgegriffen, zwar ohne Trompete, aber es geht gut nach vorne, Regener sing schöön rauh und rotzig und haut Zeilen raus, für die man ihn einfach feiern muss.

2010 – Alien Sex Fiend – One Way Ticket (Death Trip)

Alien Sex Fiend verbinden Punk, Psychedelic, Gothic und Elektronik mit wirren Geräuschen und einer verstörend-psychotischen Bühnenshow. Nik Fiend und Mrs Fiend (Nicholas Wade und Christine Wade) gehören eigentlich in die 80er und die frühen 90er, lange Jahre dachte ich auch, es käme nichts mehr von den beiden und ihren wechselnden Mitmusikern. Umso schöner, dass ich sie hier zur Playlist mit einem schönen Stück Musik aus der KrautNick-Ära hinzufügen kann, das alles beinhaltet, für das ich ASF seit über 30 Jahren liebe.

2011 – Tom Waits – Chicago (Bad As Me)

Bis „The Black Rider“ (1993) hat Waits alle ein bis zwei Jahre ein Album veröffentlicht und man war das derart gewohnt, dass man es nicht feierte und lobpreiste. Dann machte er sich rar: Bis „Mule Variations“ vergingen vier Jahre, 2002 erschienen mit „Alice“ und „Blood Money“ gleich zwei Alben, 2004 das hier angespielte „Real Gone“, 2011 noch „Bad As Me“ und seitdem ist Ruhe. Wenn wir von gelegentlichen Großtaten wie „Bella Ciao“ auf Marc Ribots 2018er Album „Songs Of Resistance 1942 – 2018“ absehen, das hier auch noch Abspielung finden wird.

Ich wähle hier mal „Chicago“ von Waits’ bislang letztem Album aus. Es könnte auch auf einem der neueren Tom-Jones-Alben verortet sein, wäre da nicht Waits’ kaputter Gesang und dieser immer irgendwie krank klingende Blues, den Waits mit Captain Beefheart gemein hat.

*2012 – Dinosaur Jr. – Watch The Corners (I Bet On Sky)

Wer sieht aus wie der mittelalte Helmut Kohl mit langen, grauen Haaren und spielt gefühlt alle 30 Sekunden ein Solo? Richtig – J Mascis von Dinosaur Jr. Dazu singt er auch noch kratzig-nölig wie in seinen besten Zeiten in dern 80ern – Dinosaur ist schöne Kindheitserinnerung und großartige zeitgenössische Gitarren-Indie-Musik, die den Grunge überdauert hat und gut gealtert ist, in einem.

*2013 – De Staat – Witch Doctor (I-Con)

De Staat ist so ein rekursives KrautNick-Ding: Matze machte mich einst auf die Band aufmerksam, indem er mir „Kitty Kitty“ vorspielte und dazu meinte, außer diesem Song hätten de Staat nichts Bewundernswertes gemacht. Ich machte ihn dann auf „Witch Doctor“ aufmerksam und dann begannen wir beide die skurille, schlagzeugorientierte niederländische Band um den – und das ist hier keine Übertreibung – charismatischen Frontmann Torre Florim zu lieben, was in einem gemeinsamen Konzertbesuch in Hannover im April 2023 gipfelte – nachzulesen auf KrautNick!

*2014 – Kurt Ostbahn und die Musiker seines Vertrauens – I waas gnua (Live auf der Kaiserwiese 2014)

Ja, der Ostbahn-Kurti, der es von einer Idee des Journalisten Günter Brödl zum leibhaftigen Boss des Austro-Rocks schaffte, ist leider 2022 verstorben. Willi Resetarits coverte sich mit einer großartigen Band durch die Rockgeschichte der Welt und traf den Geist der Originale mit seinen im Wiener Schmäh (OK, das ist jetzt arg vereinfacht, Resetarits war Burgenlandkroate) gehaltenen Übersetzungen oft besser als sie selbst. Und nun hören Sie selbst.

*2015 – Napalm Death – How The Years Condemn (Apex Predator – Easy Meat)

Napalm Death sind seit Jahrzehnten eine Bank im Grindcore, und Grindcore kann man auch immer gut hören, wenn man Death Metal mag. Auf „How The Years Condemn“ kann man den Bass von Shane Embury am Anfang gut hören und kriegt auch mit, dass die Band nicht einfach nur Krach macht, sondern weiß, was sie tut.

*2016 – Voodoo Jürgens – Heite grob ma Tote aus (Ansa Woar)

Nicht nur Blixa Bargeld, Schorsch Kamerun und Gottlieb Wendehals haben sich bescheuerte Künstlernamen ausgedacht – David Öllerer aus Tulln an der Donau spielt, was das betrifft, in der ganz hohen Liga des urst Abgeschmackten. Was ihn nicht davon abhält, ein ganz hervorragendes Album nach dem anderen rauszuhauen, und „Heite grob ma Tote aus“ ist sein bisher größter Hit und einer der besten Songs, die sich jemals in Österreich ausgedacht wurden.

2017 – Der Nino aus Wien – Tränen machen wach (Wach)

In eine ähnliche Kerbe haut der „Dylan vom Praterstern“ – Nino Mandl – sowohl von der Wahl des Künstlernamens als auch von der Musik und von der Großartigkeit her. Hier nun echter Wiener Schmäh, Musik zwischen Austro-Rock, Wienerlied, Singer-Songwriter und Post-Pop-Irgendwas, mit im Gedächtnis bleibender Stimme.

*2018 – Marc Ribot – Bella Ciao (Goodbye Beautiful) (Songs Of Resistance 1942 – 2018)

Ich habe gekotzt, als das italienische Partisanenlied „Bella Ciao“ vor einigen Jahren als Dancefloor-Song verhunzt wurde. Die vorliegende Version von Marc Ribot mit Tom Waits am Gesang wird dem Original wesentlich gerechter. Ribot hat seit den 80ern (beispielsweise auf „Rain Dogs“) immer wieder bei Tom Waits Gitarre gespielt, er ist Linkshänder und spielt auf einer Rechtshänder-Gitarre, das unter anderem macht seinen speziellen Sound aus.

2019 – Billy Nomates – No (No)

Billy Nomates (bürgerlich Tor Maries) trägt eine Vokuhila-Frisur und hört sich an wie eine Mischung aus den Sleaford Mods (mit denen sie das tolle „Mork’n Mindy“ aufgenommen hat) und Anne Clark. „No“ ist ein großartiger Song, der die Bedeutung und die Wichtigkeit des in weiten Teilen der Gesellschaft weitgehend unbekannten Wortes „Nein“ großartig verdeutlicht.

2020 – Run The Jewels – Ooh LA LA (RTJ4)

Es gibt noch richtigen, politisch korrekten Gangsta-Rap mit ansprechender Musik, wie schön! Nichts gegen Kendrick Lamar und wie sie alle heißen, aber mich persönlich (als alten Fan von Ice-T, Biggie Smalls. Public Enemy und N.W.A.) sprechen Killer Mike und El-P wesentlich mehr an. Im Zusammenhang mit „I can’t breathe“ haben RTJ sehr verdient sehr viel Ruhm bekommen.

*2021 – Tom Jones – One Hell Of A Life (Surrounded by Time – Hourglass Edition)

Mein persönlicher Gänsehautmoment im 2024er Tom-Jones-Konzert in Hannover, nachzulesen auf KrautNick.de!

2022 – Johnny Marr – Counter Clock World (Fever Dreams Pt. 1-4)

Wollen wir eine Smiths-Reunion? Ich hoffe doch nicht, denn das Werk der großen Band aus Manchester mit dem damals noch nur unsympathischen egozentrischen Fontmann Morrissey sollte man nicht verhunzen dürfen. Morrisseys Soloalben sind durchweg gut, egal wie Scheiße der Künstler auch ist, und seit 2013 veröffentlicht auch Johnny Marr in regelmäßigen Abständen tolle Soloalben. Dass er selber singt und nicht Morrissey, finde ich gar nicht schlimm. Er singt bestimmt besser, als Morrissey Gitarre spielt, und außerdem… She said „Eh, I know and you cannot sing!“ I said: „That’s nothing, you should hear me play piano!“, um doch nochmal Morrissey zu zitieren.

*2023 – Automat & Gemma Ray – I Was Never Here (Heat)

Diesen Song habe ich zuerst im Hörspiel „Sarah Jane“, nach einem schwarzen Krimi von James Sallis, gehört und war von Gemma Rays Stimme und der Melodie des Liedes unheimlich begeistert. Hörspiele, Podcasts und Hörbücher begleiten mich minnichstens zweimal pro Woche, wenn ich mir dem Kraftwagen vom Oberharz in die südostniedersächsische Löwenstadtmetropole („Die Sommer Erleben Stadt“ ist das Stichwort) pilgere, um dort meinem Tagwerk nachzugehehen.

2024 – KMFDM – Erlkönig (LET GO)

Hihi, es zwingt einen ja niemand, zum Vorspielen das beste Stück des Jahres auszuwählen, also beschließe ich den munteren Reigen hier mit der KMFDM-Version eines der schmierigsten Opusse des Dichterfürsten („Er war ja auch Minister, drüben in der Ostzone“, wie schon Adolf Tegtmeyer wusste).