Wolf Haas – Müll – Hoffmann und Campe 2022

Von Matthias Bosenick (11.04.2023)

„Jetzt ist schon wieder was passiert“, möchte man meinen, doch verwendet der österreichische Autor Wolf Haas diesen klassischen Brenner-Einstieg in „Müll“ zum dritten Mal in Folge nicht mehr, also seit dem Comeback nach dem überraschenden Tod des namenlosen Icherzählers. Also: Simon Brenner ist wieder da, zum neunten Mal und acht Jahre nach seinem letzten Fall, und Haas dichtet dem lakonischen Schwarzseher nicht nur einen beachtlich ausgearbeiteten Fall an, sondern erzählt ihn auch wie gewohnt in der ihm typischen und einzigartigen Sprechweise, die längst „Haasisch“ genannt wird. Krimi kann sehr wohl gleichzeitig (schwarz-)humorvoll und spannend sein, auch wenn Haas sich hier im Grunde selbst recyclet. Aber das passt ja bestens zum Thema.

Dieser Icherzähler trägt eine kuriose Lakonie und hat ein eigenes Wertesystem, das er immerfort in die Handlung und die Gedanken der Protagonisten einfließen lässt. Auf seine unnachahmliche Weise zäumt dieser Erzähler brutalst zugerichtete Pferde gern von hinten auf, wirft in seinen zumeist verblos vorgetragenen Gedanken Rätsel auf und steuert von hinten durch die Brust ins Auge, um den Lesenden beispielsweise zu vermitteln, dass man gerade Leichenteile auf einem Wiener Müllplatz gefunden hat. Schon also die Art, wie der Erzähler die grausame Botschaft schneckenförmig an die Leserschaft heranträgt, birgt ein immenses Vergnügen, und dazu kommen die Kommentare, mit denen der Erzähler die Grausamkeit der Menschen in all ihren Auswüchsen auf den Punkt entlarvt.

Eine Leiche auf der Müllhalde, dem Mistplatz, wie dieser Ort in Wien genannt wird, und der Brenner ist mittendrin, weil er nämlich zurzeit auf dem Mistplatz angestellt ist. Geht man davon aus, dass Brenner im ersten Buch „Auferstehung der Toten“ 1996 bereits 44 Jahre alt war, ist es schon eher ungewöhnlich, dass er mit 70 noch einen körperlich derartig anspruchsvollen Job ausübt. Sei’s drum, anfänglich wehrt er sich noch dagegen, sich mit diesem Fund zu befassen, doch weil ein früherer Auszubildender von ihm jetzt mit den Ermittlungen betreut ist, kommt er nicht drumherum, involviert zu sein. Eine Angehörige des Toten zieht ihn außerdem in den Fall hinein.

Der führt den Brenner, der nach dem Rauswurf bei einer Freundin als Nomade in temporär verwaisten Nobelunterkünften haust, in diverse Themenfelder: Recycling, natürlich, naheliegend, aber auch übertragen auf Menschen, weil Organhandel ein Thema ist, und als drittes die Ausbeutung von Paketdienstfahrern. Haas, das lässt er über seinen Erzähler und den Brenner durchsickern, ist mit modernen Entwicklungen vertraut, aber nicht mit allen einverstanden. Eine Tracking-App auf einem Handy und wiederhergestellte, eigentlich gelöschte Dateien sind dabei elementare Elemente der Geschichte, der Unmut gegen den Kapitalismus bricht sich in knackigen Bemerkungen Bahn.

Haas saugt die Lesenden also mit einer spannenden, komplexen, überzeugend wie nebenbei aufgedröselten Geschichte in den „Müll“ – und ganz besonders auch mit seiner Sprache. Alles ist genau so, wie man es seit 26 Jahren beim Brenner kennt: Man bekommt die Geschichte wortwörtlich erzählt, wie sie ein Freund berichten würde, mit Formulierungen, die für den Erzähler typisch sind, sprich quasi Hilfsausdruck, jetzt pass auf, weil ganze Sätze einfallslos. Haas schreibt scheinbar schnodderig, ist dabei aber – nicht selten nach einem „quasi“ oder „sprich“ – akkurater als andere Autoren im Vermitteln der Innenansichten und Beweggründe seiner Figuren. In „Müll“ verbindet Haas zudem Sprache und Themenfelder zu überraschenden Zusammenhängen und Wendungen: Hirntote, also quasi menschlicher Müll, werden recyclet, indem man ihre Organe weiterverwendet, und in diesem Zusammenhang tragen Personen sprechende Namen wie Iris oder Tobias, inklusive Erläuterung.

Wie sich hier die Fäden verflechten, ist schon beachtlich, wie aus einer aus Eifersucht zerstückelten Person, einem ertappten Einbrecher, einem ambitionierten Kurierdienstfahrer und dessen Chef sowie über Verwandtschaften die Staatsgrenze nach Deutschland hinweg ein dann noch sprachlich garniertes Glanzstück wird, das erstaunt und begeistert. Am Ende, und das ist heutzutage und bei einem solch schwarzsehenden Brenner fast unerwartet, wird alles versöhnlich, so gut es möglich ist, und man fühlt sich angesichts der diversen inhaltlich und sprachlich geschlossenen Brücken mehrfach belohnt. Sogar mit einem eigentlich verstorbenen Icherzähler, der Pakete empfängt, oh Wunder. Eindeutig: „Müll“ ist kein Müll. Eher, und das ist der einzige Kritikpunkt, eine Art Recycling: Man kennt das alles ja bereits achtmal. Passt ja!