Was meine Freundin gerne hört – die Musikkolumne: Generation Walkman

Von Onkel Rosebud

Es gibt Leute, denen genügt ein Blick ins Platten- und/oder CD-Regal ihrer GastgeberIn, und kurz darauf haben sie eine umfassende Persönlichkeitsanalyse erstellt.

Schon ein einzelnes zweifelhaftes Machwerk verrät, wo die Abgründe in der Biographie liegen. Vorm Jüngsten Gericht nützen auch alle B-Seiten von Depeche Mode nichts, wenn daneben eine Soloscheibe von Phil Collins steht. Eine seltene musikalische Perle hingegen signalisiert Bildung, Geschmackssicherheit und manchmal sogar Hochadel.

Das Motto lautet: Zeig mir Deine Musik, und ich weiß, wer Du bist. Und die Reproximierung der Regel sagt dann logischerweise: Ich zeige Dir meine Musik und verrate Dir auf diesem Weg, wer ich bin und was ich von Dir will.

Die populärste Methode, mit Worten und Werken anderer etwas von sich selbst zu erzählen, ist das Verschenken von bunt gemischten Kassetten. Die Musik von Fremden, die auf ein Band gebannt wird, wird quasi zur eigenen, weil das Tapen ein kreativer Prozess ist. Dass man kein Instrument beherrscht und von Musiksoftware keine Ahnung hat – egal. Wer eine Mixkassette aufnimmt, fühlt sich trotzdem fast wie ein Musiker, zumindest wie ein DJ. Beim Zusammenstellen dieser oft aufwendig gestalteten Kleinode bekommen scheinbar nebensächliche Fragen plötzlich zentrale Bedeutung für den weiteren Verlauf des Lebens.

Zum Beispiel: Ist das Prinzip der Stilbrüche effektvoller als das des harmonischen Flusses? Können drei Minuten mit, sagen wir, Frank Zander, die Arbeit mehrerer Stunden zerstören? Macht sich ein sehr direktes Liebeslied besser am Ende der Kassette oder tritt die gewünschte Wirkung eher ein, wenn es in der Mitte platziert wird?

Auf einem Mixtape ist keine Zeile bedeutungslos. Nirgendwo ist die Popmusik im Alltagsleben relevanter. Eine Mixkassette gewährt stets einen Einblick in die Seele des Mixers. Die Taper-Ehre wird dominiert durch das Timing. Das bedeutet, das letzte Stück nicht mittendrin abbrechen zu lassen. Überaus besessene Mixtaper wollen sogar keinen Zentimeter des Bandes ungenutzt lassen und kramen noch geeignete Songs für die letzten Sekunden hervor. Dieses Streben nach einer vollkommenen Schlussästhetik ist ein ziemlich verbreitetes Phänomen.

Mixtapes aufzunehmen, ist eine Wissenschaft für sich. Schon, weil die Kassette zwei Seiten hat, ist es für Akademiker ein besonderes Bonbon, denn dadurch ist ein dialektischer Aufbau quasi vorgegeben.

Leider besitzt das Mixtaping noch keinen eigenen Lehrstuhl. Noch nicht!

Prof. Dr. Onkel Rosebud

P.S.: Dieser Text erschien erstmals am 5. Juni 2002 in ad-rem, Jahrgang 14, Nummer 14. Nachtrag 2023: In leicht abgewandelter Form wurde er auch im Intro des Buches „Various Artists – Ich Liebe Musik Vol.2“ (2020, Windlust Verlag) vom Herausgeber verwendet.