Stefan Thoben – Ein Traum in bunt. Entdeckung Ruhrgebiet – Verlag Andreas Reiffer 2021

Von Matthias Bosenick (17.05.2021)

Wenn man als Außenstehender auch nur leicht zum Ruhrgebiet in Liebe entflammt ist, will man aus diesem Buch nie mehr auftauchen. Aus einer ausgedehnten Radtour machte Stefan Thoben, Journalist aus Hannover, dieses üppig bebilderte Erlebnis- und Sachbuch, in dem er einen Blick auf das Ruhrgebiet wirft, der weder touristisch-euphorisch noch stereotyp daherkommt, sondern vermittels dessen er mit einer persönlichen Wahrnehmung und fachkundiger Recherche seine Eindrücke analysiert. Vollständig kann diese Betrachtung nicht sein, das weiß der Autor auch, und als Leitfaden für oberflächliche Reisende ist das Buch wohl zu herausfordernd; allen anderen ist es wahlweise ein Ersatz für den überfälligen Besuch oder die willkommene Aufforderung zu einem solchen. Das Wort Liebeserklärung drängt sich bei der Betrachtung des Buches einfach auf.

Das Ruhrgebiet – unendliche Weiten. Thoben kennt die Klischees besser als das Ruhrgebiet selbst, bis auf einen Kurztrip war er dort nämlich vor seiner vierwöchigen Radrundfahrt noch nie; mit dieser Transparenz nimmt er möglichen Kritikern den Wind aus den Segeln. Das ist geschickt und sympathisch: Er mimt nicht den Checker, der er nicht ist, sondern überrascht als Nichtchecker mit einer überwältigenden Informationsfülle. Weil er nun während seiner Reise seine Kenntnisse neu bewertete, wuchs in ihm die Idee, daraus ein Buch zu machen; deshalb ist dies in einigen Passagen improvisiert und damit zwar möglicherweise verwirrend strukturiert, sich wiederholend und unvollständig, aber dafür voller Leben und Leidenschaft für das, was Thoben im Pott erlebt.

Man merkt dem Reiseberichterstatter an, dass er quasi positiv überrumpelt war davon, wie sich ihm das Ruhrgebiet tatsächlich darstellte, anders als er offenbar erwartet hatte. Man folgt Thobens veränderten Blick mit Genuss und lässt sich von ihm bereitwillig mitnehmen in ein Ruhrgebiet des 21. Jahrhunderts, das auf den Ruinen einer aufgelassenen Industrie immerfort erst noch entsteht, die ihrerseits nicht ganz totzukriegen ist, deren aufkeimende Blüten aber nicht immer wohlig duften. Und inmitten des Ganzen lebt der Mensch mit seinen Eigenarten und Besonderheiten, den man – mit Thoben – nur liebenswert finden kann.

Dennoch tappt Thoben in keine Klischeefalle. Er kennt sie alle, er betrachtet sie und kann sie auch gegebenenfalls feiern, doch ist er ebenso dazu in der Lage, sie in eine gegenwärtige Realität und die dazugehörigen Sachzwänge einzuordnen; er weiß, was womöglich evolutionär intrinsische Folklore ist und was vielmehr von einem Marketing gesteuert. Das Wort „Strukturwandel“ etwa beschreibt, so erkennt es der Autor, etwas Notwendiges, das findige Strategen allerdings auch auf Kosten der von diesem Phänomen Betroffenen für sich zu vermarkten wissen. Auch sind ihm die Diskussionen um No-go-Areas vertraut; sein Blick in diese Problemviertel sieht indes weit versöhnlicher aus, als es politische Wortführer vielleicht gern hätten.

Ebenso kontrovers setzt sich Thoben auch mit der Lektüre auseinander, die es über das Ruhrgebiet seit um die 100 Jahren bereits gibt, und sucht darin Bestätigung für seine Wahrnehmung sowie den seitdem vollzogenen Wandel. Hauptsächlich arbeitet er sich an dem vernichtenden „Im Ruhrgebiet“ von Heinrich Böll und dem Fotografen Chargesheimer aus dem Jahr 1958 ab. Modernere Quellen hingegen nennen immerfort das ganze Grün und den Umstand, dass Stadtgrenzen inmitten von Straßenzügen lokalisiert sind und nicht wie in ländlichen Gegenden, etwa Thobens Heimat Hannover, in ebenjenem Grün; sie beten die ausnehmend hohe Kontaktfreudigkeit der Einheimischen herunter; den Umstand, dass man das Ruhrgebiet nicht auf Anhieb erfassen kann, und dass dieser Anhieb auch ein ganzes Leben dauern kann.

So liegt es in der Natur der Sache, dass auch Thobens Buch nicht vollständig sein kann, und das weiß er ja auch. Ihm entgingen etwa die Aktionen zur Kulturhauptstadt 2010, als Essen stellvertretend für die Metropole Ruhr ein überbordendes Angebot in die Welt sandte. Auch lässt er, abgesehen von der Nennung der Band International Music, Abstecher in Subkulturen vermissen, etwa in das Unperfekthaus in Essen oder zu Lokalmatadoren sämtlicher Genres wie Kreator, RAG, Eisenpimmel oder The Fair Sex. Ihm entging auch der Umstand, dass man das Ruhrgebiet gern künstlich als Einheit vermarkten kann, dass Leute in Catsrop-Rauxel dann aber trotzdem gern über Entscheider aus Essen lästern, zumindest, so lang der Blick lokal gerichtet ist; richtet er sich jedoch gegen das Ruhrgebiet als Ganzes, steht der Zusammenhalt vor der Einzelproblematik.

Aber das sind verzichtbare Details. Auch ohne großen Vorlauf kennt Thoben sein Sujet und bildet es auch entsprechend ab; natürlich mit vertrauten Themen wie Bergbau, Zechensterben, Kleingärten, Einkaufszentren und Fußball, er kennt die Folklore, um „Ernst Kuzorra seine Frau ihr Stadion“ und Wetter unter Tage, um Grubenunglücke und wundersame Rettungen, um fehlende Radwege inmitten einer Autofahrerregion, um Kunstmuseen und reanimierte Arbeitersiedlungen, um Taubenzucht, um Schriftstellerei aus dem Pott und über den Pott, um Wolfgang Welt, Horst Schimanski, Herbert Grönemeyer und Jürgen von Manger, um die Landmarken, die dem Strukturwandel einen frühen Zusammenhalt geben und die er dennoch weitestgehend meidet, um Nazivergangenheit und -gegenwart und um das graue Grauen, das dem Pott jahrzehntelang anhaftete.

Es mag dem unvorhergesehenen Umstand geschuldet sein, dass Thoben es nicht vorhatte, aus seiner Reise ein Buch zu machen, dass es bisweilen etwas unstrukturiert wirkt; die Reiseetappen sind nicht ganz klar nachvollziehbar: Was etwa hat das Haldenereignis Emscherblick mit Duisburg zu tun? Zwischen seine stenogrammartigen Beobachtungen lässt er längere Aufsätze einfließen, in denen er Gespräche wiedergibt und Rechercheergebnisse teilt; hier ist er auf eine Art informativ, die nicht nur über Reiseführertexte hinausgeht, sondern von Tourismusbehörden an mancher Stelle aufgrund ihrer liebevollen Schonungslosigkeit womöglich eher gemieden worden wären. Dazu passt, dass Thobens Fotos eher weniger die eines Reisebildbandes sind, sondern vielmehr künstlerisch und subjektiv, ausschnitthaft und grafisch; exemplarisch sind sie dennoch, man erkennt inmitten bunter Flächen so manches bekannte Element wieder. So ist es auch mit manchen seiner Kommentare: Den konkreten Bezug zu einigen Betrachtungen lässt er so offen, wie seine Fotos ausschnitthaft sind. Da weiß man jedoch nicht, ob das ein Versäumnis ist oder ein Werkzeug, um den lesenden zu Eigenrecherche oder gar zu einem Besuch zu animieren.

Aus jeder Zeile dringt, dass Thoben am Ruhrgebiet einen Narren gefressen hat, und dass eine Liebe zu einer Gegend auf der Liebe zu den Menschen fußt, die dort leben und ihm als Außenstehenden einen Einblick von innen gewähren. Das Bunte herauszuarbeiten, im Gegensatz zu Böll, ist ihm ein Ansinnen, und es ist ihm gelungen, in Wort und Bild.

Helge Schneider fehlt hier übrigens, dafür erklärt Thoben unabsichtlich einen uralten Witz des Mülheimers, der einmal Karel Gott „aus Prag bei Herne“ verortete; was willkürlich klingt, hat einen konkreten Bezug, denn Thoben weiß, dass Herne in der Nachkriegszeit mit Prag den Beinamen teilte, nämlich „Die Goldene Stadt“. Und um mit weisen Worten von Christoph „El Fisch“ Schneiderbanger von den Lokalmatadoren zu schließen: „Ich bin voll wie die A40“.