Matthias Hufnagl – Interim. Gineitel Lichtorgeln – Windlust-Verlag 2020

Von Matthias Bosenick (15.10.2020)

O Lyrik, du ungnädige Literaturgattung! Wer nicht sowieso einen Zugang zu dir hat, tut sich auch mit dem Gedichtband „Interim. Gineitel Lichtorgeln“ von Matthias Hufnagl schwer. Zunächst zumindest: Man muss sich reinknien, muss es wirken lassen, sich den Bildern hingeben, den sprachlichen wie den tatsächlichen, die der Berliner DJ, Dichter und Hobbyfotograf mit Wurzeln in Dresden seinen minimalistischen Betrachtungen zur Seite stellt. Dann bekommt man einen Eindruck von Nachtleben, Fernweh, Wehmut und dem Gefühl dafür, wie schwer ein Leben ist, indem man seine Position noch nicht gefunden hat. Und davon, wie die Texte im Livevortrag wohl wirken mögen.

Karg und minimal sind die Gedichte, ohne Reim zumeist, Schlagworte, Betrachtungen, Gefühle, Räume, Umstände; mit wenigen Anschlägen ausgearbeitete Zustandsbeschreibungen. Wiederkehrende Motive sind Reisen, Sex in Hotels und eine Art Selbsterhebung: Immer wieder zieht Hufnagl den Vergleich zwischen seinem Nachtleben und dem Tagleben des Rests der Gesellschaft heran, stets mit dem herablassend wirkenden Vorwurf verbunden, die Nacht des Erzählenden sei besser als der Tag des Lesenden, desjenigen, den er am morgen nach der alkoholschwangeren Feierei auf dem Heimweg trifft, ameisengleich zur Lohnarbeit hetzend.

Und doch versehen mit einer Art Blues, das Ende der Nacht betrauernd, womöglich das unabwendbare Ende eines solchen Lebensstils, von Sex, Drugs und Rock‘n‘Roll, der Blues davon, dass das Nichtloslassenkönnen zusehends mehr Kraft erfordert, mehr Aufwand bedeutet, und man deshalb umso eindringlicher den Unterschied zum genormten Alltag hervorzuheben hat. Den reinen Globetrotter- und Berlinhedonismus etwa transportiert das Buch nur oberflächlich, und es wirkt nicht so, als sei es nur dies: oberflächlich. Es steckt eine Wehmut in den Zeilen, eine Sehnsucht, womöglich danach, dieses bejubelte Leben wiederhaben zu wollen, weil die Partyzeit eben doch schon längst einer Pflicht gewichen ist, man dies aber weder sich noch dem Zuhörenden eingestehen will.

Dann muss es eben das Bild vom Gin sein, vom Whisky, das vom von Zweisamkeit zerknitterten Laken im Hotelzimmer irgendwo auf Reisen, von der Mucke, und dann dringt doch die Vergänglichkeit ins Bewusstsein, vergleichbar mit dem Zucker im Mokka, dann stellt man sogar fest, dass man einmal Luft holen möchte, eine Pause braucht, dass so ein Blinddarmdurchbruch die eigene Sterblichkeit ins Blickfeld rückt, und dann reflektiert man sich doch mal selbst, kommt zu unbequemen Schlüssen und hat die Größe, sich mit ihnen anzufreunden, Rückgrat zu zeigen. Auch in Bezug auf gesellschaftliche und politische Themen; Hufnagl gibt in diesem Band auch dem Kapitalismus eine Schelle und verurteilt die Europäische Flüchtlingspolitik.

Das alles geschieht zumeist in nur wenigen Worten, kein Gedicht überschreitet die Buchseiten, und die sind klein, unter Din-A6, in alter Rechtschreibung gehalten, die See bei Hufnagl ist beispielsweise rauh, und zudem in beatpoetischem Courier abgedruckt, als säße der trinkfreudige Dichter an einer Schreibmaschine, nicht an einem Textverarbeitungsprogramm. Dabei gehört der Dichter auf die Bühne, man muss sich beim Lesen Zeit lassen, alles sacken lassen, alles wirken lassen, sich imaginieren, eine Stimme trüge die Worte vor; dann bekommen viele der Texte einen Rhythmus, nicht nur durch den Reim, den Hufnagl in „Wunderbare Jahre“ zunächst heranzieht und dann aufbricht, dann kann man sich „Gefühliger Paarreim“ auch als Rap vorstellen, obwohl der Autor eher den Rock‘n‘Roll verströmt. Und man fragt sich, wie er Wortkreationen wie (w)ortlos, nost(r)algie, (un)vernunft oder verl(i)eben wohl sprechen würde. Nicht zuletzt steckt auch Humor in den Gedichten, Wortspiele, etwa zum Themenfeld Baader-Meinhof oder in der ungeduschten U-Bahn, für die es am Ende kein Halten mehr gibt – ein schönes Bild. Und Bilder gibt es ja auch zuhauf, neben jedem Gedicht ein sinnhaft ausgewähltes, den Inhalt ergänzendes. Da ergibt sich eine Ganzheitlichkeit im Wirken des Autoren. Und doch noch ein Zugang zu dieser Lyrik.