Hoax und Warteschleife – Live bei der 5. Exil-Revival-Party in der Musikscheune Pollhöfen am 19. November 2016

Von Matthias Bosenick (20.11.2016)

Über Pollhöfen sieht man Sterne, die über Braunschweig seit Jahrhunderten von der urbanen Lichtverschmutzung verschluckt werden. Was man hingegen nicht sieht, ist Bebauung, zumindest in dieser Pollhöfen angegliederten Siedlung namens Kiebitzmoor. Die Scheune eines der drei Höfe dieser Siedlung birgt seit einigen Jahren ein Unterhaltungsetablissement, das sich sehr an der alten Schule alternativer Discotheken in der Lüneburger Heide orientiert. Eine davon hieß Exil und war bis zum feurigen Exitus vor rund 20 Jahren in Bodenteich angesiedelt. Weil die Gäste von damals heute kaum noch geschmacksgerechte Weggehgelegenheiten finden, haben sich allerorts Retro- und Revival-Partys etabliert. Die fünfte fürs allseits geliebte Exil sollten eigentlich die Bollock Brothers beschallen; krankheitsbedingt fand man in Hoax und Warteschleife gleichwertigen Ersatz. So viel Gegenwart liegt im Abfeiern der Vergangenheit: Die Freude an dem Ereignis war zwar vom „Weißt du noch“ durchdrungen, setzte aber einen kräftigen Anker für künftiges Rückerinnern auf genau diesen Moment.

Kiebitzmoor also. Gehört zu Pollhöfen. Gehört zu Ummern. Gehört zu Wesendorf. Gehört zu Gifhorn. Liegt zwischen Wichelnförth und Texas. Besteht aus drei Höfen, die nicht mal in angrenzender Nachbarschaft zueinander gelegen sind. Es gibt eine Bushaltestelle, die sich genau im Zentrum des Dreiecks befindet, für jeden der Bewohner also, sollte er die Landschaft zwischen Heide, Moor und Ackerbau verlassen wollen, einen ungefähr gleichberechtigten Fußweg erfordert. Außer ein paar Schülern in den Neunzigern ist aber ohnehin jeder Bewohner Kiebitzmoors mobil, so häufig fahren hier die Busse nämlich gar nicht. Auch unabhängig davon, ob es überhaupt Fahrgäste gibt.

Es ist verwunderlich, dass es ausgerechnet in dieser Ödnis einen Veranstaltungsort gibt: die Musikscheune Pollhöfen. Die ist die Frucht privater Initiativen und eines Vereins und bietet seit 2009 regelmäßige Livekonzerte an – und einmal im Jahr die Exil-Revival-Party. Eingerichtet ist die Musikscheune genau so, wie man es erwartet und erhofft: rustikal, mit Landdevotionalen sowie Brauerei- und Indieband-Plaketten, Postern vergangener und kommender Veranstaltungen, einer üppigen Theke, funktionalen wie zum Lungern einladenden Sitzgelegenheiten, den dem Exil nachempfundenen schwarzen Sitzstufen, der ebenfalls dem Exil entnommenen Balustrade rund um die Tanzfläche, ausgezeichneter Licht- und Tontechnik sowie Holz, wohin das Auge blickt, also auch bis weit in die Höhe unter dem Scheunendach. Also einladend und heimelig. Genau die richtige Kulisse für die Exil-Revival-Party. Derer erlebte ich bislang zwei, die erste und die vierte; in den Jahren dazwischen erneuerte sich die Theke und wanderte quer durch den Raum, verbesserte sich die Technik, vergemütlichte sich die Ausstattung. Man sieht, dass sich der Verein um dieses private Vergnügen engagiert.

Verwunderlich ist, dass sich kaum Gäste aus der Nähe dort einfinden. Die meisten nehmen einen weiteren Weg auf sich, nicht nur wir Braunschweiger. Der Prophet im eigenen Lande halt. Dennoch hat jeder Besuch dort etwas von einem Klassentreffen, bei dem sich Weggezogene (Gäste) und Dortgebliebene (Veranstalter) über das nach Jahrzehnten der Bekanntschaft turnusmäßig erfolgende Wiedersehen freuen.

Für die fünfte Ausgabe der Party waren eigentlich die fabulösen Bollock Brothers als Livegäste vorgesehen, doch die sagten ab. Es sprangen ein: Warteschleife und Hoax. Von ersteren hörte ich nie zuvor, zweitere begleiten mich seit meiner Jugend und sind zurzeit so aktiv wie seit Jahren nicht mehr. Der Bandname Warteschleife leitet in die Irre: Musikalisch ist die Gruppe nicht zu fassen, Dudelmusik spielt sie zumindest auf keinen Fall. Eher Rockmusik im sehr weiten Sinne, mit funkig gespielter Gitarre und an Rage Against The Machine angelehntem Bass. Das Keyboard füllt die spärlichen Zwischenräume an und die Stimme erinnert an die des jungen Sven Regener. Die Band spielt nur Eigenkompositionen und die sehr dicht. Angenehme Überraschung.

Nicht für alle im Publikum, der Funke springt nur partiell über, was ich schade finde. So kommt es eben zu ersten Begegnungen mit alten Bekannten. Hoax und das Bandteam sind warmherzig und familiär wie immer. Hoax-Intimus Ulf entwickelt Ideen für Superhelden-Kurzfilme mit dem Pinhead, dem Maskottchen des Nebenprojektes Ramones Experience: „Der Pinhead öffnet eine Bierflasche mit einer Banane“ etwa, was Bezug auf ein altes fruchtiges Symbol von Hoax nimmt, oder „Der Pinhead toastet ein Toastbrot mit dem Bügeleisen, und wenn er es wegnimmt, ist das Ramones-Logo auf dem Toast.“ Diese Filme möchte ich dringend sehen. Mit noch mehr solcher Ideen.

Dann nimmt Ulf mich mit in den Backstageraum neben der Theke, wo sich Hoax und Freunde beim Gezapften aufwärmen. Seit 1982 gibt es die Band, alte Dorfpunkschule, wie von Rocko Schamoni beschrieben, nur ohne einer mit Hamburg vergleichbaren Großstadt in der Nähe, sondern im heimischen Biotop verwurzelt und verblieben. Die Themen der alten Alben haben daher nach wie vor Bestand, auch wenn die Berichterstatter fraglos alterten. Auch neue Songs gibt es, nicht nur von der jüngsten EP: Zwei instrumentale Umbesetzungen – Schlagzeug und Gitarre – erwirkten zwei Neukompositionen, die heute erstmals vor Publikum zur Aufführung kommen. Eine handelt vom Leben auf der Baustelle, das man als junger Lehrling in den Achtzigern genau so erlebte wie als Meister heute; ein zeitloses Thema also, das perfekt zum Oeuvre passt. Der zweite Song heißt „Märchenonkel“ und dreht sich unausgesprochen um Donald Trump: Politsche Songs sind bei Hoax zwar selten, aber nicht inexistent. Ein später Hit etwa trägt den Titel „Mir ist kein Hirn gewachsen“ und wirft mit einer Verballhornung des Niedersachsenliedes einen erheblich despektierlichen Blick auf Lokal- und sonstigen Patriotismus.

Der Raum füllt sich mehr und mehr, man kommt mit seinen Stehnachbarn erfreulich schnell in Kontakt. Eigens aus Gifhorn reisten zwei Männer vor mir und meiner Begleiterin an, die in der Zeitung lasen, dass sich die Party auch an frühere Gäste solcher Lokalitäten wie dem Moorkater richtet, der in der Ziegenstadt, wie sie synonym gern genannt wird, um das Wort Gifhorn zu vermeiden, eine Art Komplementär zum Exil war. Auch das Farmer’s Inn in Uetze, das sogar noch heute existiert, ist ein gemeinsamer Nenner: Die beiden berichten, dass es noch exakt so aussieht wie vor 30, 40 Jahren und dass auch noch dieselbe alte Frau hinter der Theke hinten links steht. Ob auch der Papagei noch im Cafébereich an der Decke hängt, wussten sie nicht: Dort war es so voll, dass sie nicht hineinkamen. Wir tauschen uns aus über die Revivals auch solcher Läden, die man mit Moorkatergeschmack eher mied: Bonanza, Rodeo, Salvo, gelegen in Ahnsen, Ohrdorf und Knesebeck. Irgendeinen Laden, von dem die Herren sprachen, kannte ich nicht: „Du bist ja noch jung“, begründete einer. Was, mit 44? „Ja, noch keine fuffzich.“

Kaum legen Hoax los, brennt der Saal. Sofort finden sich die Fans zum Moshpit, singen alle Texte mit, tanzen Pogo, liegen sich in den Armen oder reißen jene bierselig in die Luft. Bei den Texten indes kommt ihnen Sänger Vincent bisweilen in die Quere: Das Licht im „Bodybuilder“ etwa vermisst er nicht mehr bei Protagonist Rocky, sondern in dessen Birne. Angemessene Veränderung, und nicht die einzige. Den Jahren und den neuen Instrumentalisten geschuldet ist die musikalische Weiterentwicklung, die den vertrauten Songs gut zu Gesicht steht. Hier altern Dorfpunks gebührlich und angemessen, das Publikum nicht minder.

Nach anderthalb Stunden räumen Hoax die Bühne für gemütliches Sitzmobiliar mit Kerzen auf dem Tisch sowie den Moshpit für die Tanzfläche. Sofort legt der DJ los mit alten Exil-Krachern, und ebensofort ist der vorherige Pit wieder gefüllt. Matten fliegen, Bierkrüge leeren sich, irgendwann zu später Stunde auch der Saal. Vor lauter Wiedersehen, Geschichtenaustauschen, Themenbehandeln und sonstiger Herzlichkeit verging die Zeit so schnell wie im Rückblick die eigene Jugend. Obwohl, ist die überhaupt vergangen? Eine Gästin spricht von der gelegentlichen Wehmut angesichts der kürzer werdenden verbleibenden Lebensspanne, aber eigentlich sorgen wir in genau dem Augenblick dafür, dass wir nicht nur vom tollen Früher reden, sondern unserer Zukunft mit dem tollen Jetzt ein erinnerungswürdiges jüngeres Früher hinzufügen. Weitermachen ist der Trick. Wir sehen uns wieder, spätestens in einem Jahr zur sechsten Exil-Revival-Party!