Hardy Crueger – Der Flussmann – CW Niemeyer 2023 / Nachlese zur Premierenlesung am 31. März 2023, Buchhandlung Benno Goeritz

Text und Fotos von Guido Dörheide und Matthias Bosenick (März/April 2023)

Ein Novum hier: Zwei zusammenhängende Ereignisse – die Veröffentlichung eines Buches sowie die Premierenlesung desselben – dargereicht von zwei zusammenhängenden Rezensenten, hier Guido Dörheide und Matthias Bosenick. Corpus Delicti ist „Der Flussmann“, der neue Thriller von Hardy Crueger, dem in Braunschweig ansässigen Schriftsteller, der seinen Psychokrimi der Einfachheit halber in seiner Wahlheimat stattfinden lässt. Zur Premiere in der Buchhandlung Benno Goeritz wählt der Autor appetitanregende Ausschnitte aus, die den Einblick erlauben in das Leben einer Frau, deren Mann nach einem Betriebsfest verschwindet und der später nur noch als Leiche gefunden wird. Keiner glaubt ihr, dass das kein Suizid oder Unfall war. Hat sie Recht? Ist sie irre? Oder am Ende gar selbst die Mörderin?

Lesungen von Hardy Crueger habe ich schon einige erlebt – sei es in Begleitung der beiden wohl charismatischsten Einwohnerinnen des östlichen Braunschweiger Stadtrandes auf einem die Löwenstadt umschließenden und nach einem bisweilen reißenden Flusslaufe benannten und von Hardy Crueger oft besungenen domestizierten Binnengewässer, zusammen mit der wunderbaren Liebsten in der heimeligen Abgeschiedenheit einer der sympathischsten Buchhandlungen Niedersachsens oder in einer authentischen und von erlesener Stromgitarrenmusik beschallten Kaschemme in unmittelbarer Nähe einer Vielzahl der Schauplätze Braunschweig‘scher Verbrechen – aber noch nie eine Premierenlesung. Alsdann – gehen wir es an: Schauplatz des denkwürdigen Geschehens ist wieder einmal mehr die heimelig-abgeschieden-sympathische Braunschweig‘sche Buchhandlung Benno Goeritz in der Breiten Straße 20. Dortselbst übertreffen Marianne und Stefan Hallensleben sich mal wieder selbst: Bereits von außen leuchtet die Buchhandlung Benno Goeritz überaus einladend – zwischen einer beeindruckenden Flut von Büchern und Brunsvicensien sind so viele Stuhlreihen aufgebaut, wie reingehen, und zur Begrüßung werden wie immer persönliche Worte und umsonstene Getränke gereicht. Dann betritt Hardy Crueger die Bühne und Stefan Hallensleben findet passende Worte: „Hardy hatte heute ein schlimmes Gespräch mit dem ‚Spiegel‘ und muss das Buch nun zurückziehen – aber zum Glück ist noch nicht der 1. April!“ Zur massiven Erleichterung des Auditoriums kann der Autor somit die Verlesung ausgewählter Stellen seines neuen – 21. – Romans beginnen. Wer Crueger in ihn ihm seinen Leben bereits 1 Mal live erlebt hat, weiß, dass er häufig mit verteilten Rollen vorliest und gekonnt die Stimmen der Handelnden nachzustellen imstande ist. Beim „Flussmann“ gelingt ihm das besonders gut, wenn es gilt, die dienstbeflissene, patzige und in hohem Maße unfähige Kriminalkommissarin Frau Deppe-Kleinschmidt darzustellen.

Crueger wählt die Stellen, die er vorträgt, sehr geschickt aus, verrät nichts, das sich den Lesenden erst beim Lesen erschließen soll, führt in die verschiedenen Perspektiven, aus denen „Der Flussmann“ erzählt wird und die erst im Laufe der Lektüre einen schlüssigen Blick auf das Erzählte zulassen, sehr überzeugend ein und erzeugt dabei viel Spannung und so manches Mal auch Angst und wohliges Unwohlsein. Zuletzt sei noch die wertige Haptik des Druckerzeugnisses erwähnt, das im Verlag CW Niemeyer erschienen ist und die im Buch herüberkommende Stimmung titelbildlich schon einfängt. Am Ende gab es viel Applaus und der Autor hatte viele Bücher zu signieren.

Natürlich wären wir nicht www.krautnick.de, wenn wir hier nur über die Eindrücke einer überaus beeindruckenden Premierenlesung referieren würden: Nein, wir möchten hier auch gerne noch das großartige Buch vorstellen, dessen Premiere hier gelesen wurde. Und das machen wir – Matthias Bosenick und Guido Dörheide – hier gemeinsam und immer im Wechsel:

„Der Flussmann“ ist ein ganz wunderbarer, toller Thriller. Bereits die Covergestaltung und die gesamte Haptik des ansprechend gestalteten Paperbacks machen neugierig auf die Geschichte, die die Lesenden erwartet. Wer bereits Romane oder Geschichten von Crueger gelesen hat, weiß, dass sie/er es hier wohl auch wieder mit einer akribisch recherchierten, spannenden Story voller Detailfülle bis in die letzte zunächst scheinbar unwichtige Nebenfigur mit niemals zum Selbstzweck, sondern immer der Story dienenden, bildhaften Schilderungen der Oker-Region zu tun bekommen wird. Und genau so ist es: Jede/r, die/der in Braunschweig oder umzu beheimatet ist (und auch insbesondere jene, die regelmäßig mit dem Kraftfahrzeug den Lauf der Oker hinauffahren, um beispielsweise, wie ich es gerne tue, der Liebsten im Oberharz einen Besuch abzustatten), werden die Schauplätze des Romans wiedererkennen und sie hernach mit anderen Augen sehen bzw. sich an manche Orte nicht mehr erneut ohne einen gewissen Schauer herantrauen. Und diejenigen, denen diese Region fremd ist, werden fortan alles dransetzen, Euro um Euro beiseite zu legen, um hier mal einen Urlaub zu verbringen, um all dieser mystischen Orte mit eigenen Augen gewahr zu werden.

Es ist schon beinahe furchterregend, wie viel – und vor allem welche – Perspektiven Hardy Crueger so einzunehmen in der Lage ist. Nicht nur die der Opfer, sondern auch die der Täter blutrünstiger Kriminalstücke, und letzteres so überzeugend, dass man Angst davor bekommt, mit ihm ein Bier trinken zu gehen – wer weiß, was sein Kopf gerade wieder an undenkbaren Gräueltaten ausbrütet, während man neben ihm sitzt. Schlimm an dieser grandiosen Eigenschaft ist, dass er sich auch in den krankesten Kopf noch so hineinversetzt, dass man ihm abzunehmen gezwungen ist, dass er sich damit auskennt. Puh! Dabei, so sagt er, ist er lediglich ein guter Rechercheur und Beobachter. Definitiv!

Die gute Beobachtung beginnt mit den Namen: Denise (Déni). Robin. Madlen (Maddy). Dazu der Autor: „Die Namen habe ich mir ja nicht ausgedacht. In der Generation zwischen 25 und 35 heißen die wirklich so. Ich kenne die alle.“ Und der Hammer kommt erst noch: Der ein wenig halbseiden und schmierig rüberkommende Lokaljournalist einer der gängigen Braunschweiger Lokalzeitungen heißt Maurice Morris. Und wird so beschrieben, dass er diesem Namen überaus gerecht wird, während er seinen Schnurrbart zwirbelt.

Hinzu kommt ein Wiedersehen mit Kommissar Klunker vom Polizeikommissariat Braunschweig, der seit der zweibändigen Carsten-Sanders/Mandy-Kolwicz-Trilogie („Die Stunde der Flammen“ und „Das Blutspiel“) leider nichts an Fachkompetenz hinzugewonnen hat und dem deshalb hier die nicht minder inkompetente, dafür aber umso nassforscher auftretende Kollegin Deppe-Kleinschmidt an die Seite gestellt wird. Und auch der sympathisch-verranzte Privatdetektiv aus der Okergeschichte „Der kleine Finger“ (erschienen in „Okergeschichten Teil II“) taucht wieder auf und sorgt für manche Überraschung.

Kaum weniger bemerkenswert ist, dass sich Cruegers Perspektiven zwar widersprechen können, sie in sich jeweils aber schlüssig sind. Natürlich ist man als Witwe sauer auf die Polizei, die vermeintlich nach Schema F ihre Arbeit eher ruhen lässt als ausübt, doch sind die Argumente der Kommissarin mit dem entlarvend sprechenden, aber anders als bei TKKG mitnichten albernen Namen Deppe-Kleinschmidt ebenfalls überzeugend, wenn man sie sich ohne Hysterie anschaut. Oder ist die Witwe gar nicht hysterisch? Oder haben die Ermittler am Ende doch jedes Recht auf Anerkennung verwirkt, ohne dass Crueger damit grundsätzlich ein Polizei-Bashing betreibt? Vielmehr liefert er einen Grund für einen Sachverhalt, der in Detektivgeschichten gern ungenannt bleibt: Was treibt denn die Polizei alles so nicht, damit ein Detektiv überhaupt die Chance hat, statt ihrer den Mörder herauszufinden? Hier sind es die Apparatstrukturen, die schlichtweg eingehalten werden – jeder Fall neben dem Hauptfall ist ein Einzelfall, so viele kann man einfach gar nicht detailliert bearbeiten, da fühlt sich jeder Angehörige versetzt, auch die, die nicht gerade die Hauptfiguren eines Buches sind.

Nun aber zum Inhalt: Im Klappentext werden verschiedene Personen vorgestellt, die in der Geschichte wichtige Rollen spielen. Sie werden dort mit „Sie“, „Du, „Ich“ und „Er“ bezeichnet. Crueger wechselt erzählperspektivisch von Kapitel zu Kapitel zwischen diesen Handelnden hin und her, nach und nach wird den Lesenden klar, welche Rolle sie spielen und die Handlungsstränge verwickeln sich ineinander. Und das ist super gemacht, beispielsweise erleben die Lesenden einige Teile der Handlung aus den verschiedenen Perspektiven mit und können sich einen Reim darauf machen, auch wenn sie – mit Ausnahme der Protagonistin Denise – noch gar nicht wissen, wer ihnen hier den jeweiligen Handlungsteil erzählt.

Der Leser freut sich darüber: Crueger legt von Anfang an viele kleine bis große falsche Fährten aus. Mit jedem Perspektivwechsel lässt er Wissenslücken, die er erst im Verlauf schließt, und doch reiht er seine Cliffhanger auf eine sinnvolle Weise aneinander und klärt sie spannend auf, nicht mit der Brechstange. Die Witwe, Denise Bachmann, macht sich zunächst unglaubwürdig, weil sie ihren nicht von einem Betriebsfest heimgekehrten Mann im Internet zur Suche freigibt, und noch unglaubwürdiger, als sie nach dem Fund seiner Leiche gegen alle Indizien davon überzeugt ist, er sei nicht versehentlich oder suizidal verstorben, sondern ermordet worden. In diesem Internet gibt es einige Beobachter, die man zunächst eher fragmentarisch vorgestellt bekommt und sich so seine Zusammenhänge zusammenreimt, mit denen man fast immer falsch liegt und sich dann auch noch darüber freut, weil die Geschichte mit Cruegers Fortgang einfach besser ist, als sie es mit der eigenen Idee gewesen wäre. Man kann anhand einiger Hinweise etwa davon ausgehen, dass Denise ihren Mann selbst umbrachte. Dass es einen Beobachter gibt, der Jugendliche seziert. Oder einen, der Gottes Allmacht anzweifelt und irgendetwas auf dem Kerbholz hat. Oder einen, der auf Bewährung unterwegs ist und wegen sexueller Übergriffe saß. Es rüttelt sich alles, aber – nun: anders. Jedenfalls fordert Crueger seine Leserschaft damit dazu heraus, sein Buch gründlich und aufmerksam zu verinnerlichen.

Hier nun ein kleiner Sprung zum Anfang des Romans: Die Kernhandlung ist schnell erzählt: Denise‘ Mann Robin kommt eines Tages nicht nach Hause und außer Denise glaubt niemand, dass es sich um etwas Anderes als um einen Unfall handeln könnte. Also versucht sie, als Köder für den in ihren Augen tatsächlich existierenden Täter zu fungieren, um Frieden zu finden.

Die Lesenden werden dabei eigentlich immer auf Ballhöhe gehalten und wissen stets mehr als Klunker, Deppe-Kleinschmidt und Morris. Dennoch gelingt es Crueger immer wieder, die oben erwähnten falschen Fährten zu legen, intensive Spannung aufzubauen und dafür zu sorgen, dass es nicht gelingt, das Buch jemals aus der Hand zu legen.

Dabei beeindruckt er aufs Neue mit dem Detailreichtum seiner Schilderungen, die dennoch auf gut 300 Seiten Platz finden, was eigentlich gar nicht geht: Das Material, aus dem die von Crueger verwendeten Buchseiten bestehen, ist vermutlich mit demselben Zeug beschichtet wie die Innenseite der Handtasche meiner Liebsten: Da passen auch volumenmäßig deutlich mehr Sachen rein, als die Tasche von außen groß ist.

Wie es Crueger gelingt, sich nicht in der Detailfülle seiner Schilderungen zu verlieren, sondern den Spannungsbogen immer kurz vor dem Zerbersten zu halten und dabei die humoristischen Aspekte nicht aus den Augen zu verlieren (Beispiel: In einer Szene wird beschrieben, wie Denise ein populäres Hilfsmittel bei der Smartphone-Fotografie verwendet. Innerhalb weniger Zeilen wird dieses zunächst als „Selfie-Stab“, dann als „Selfie-Stick“ und am Ende als „Selfiestange“ erwähnt.), ist sowohl handwerklich als auch vom Bauchgefühl beim Lesen hervorragend gemacht.

Humor integriert Crueger überhaupt immer auf seine Weise: nicht nicht, aber ebenfalls sinnstiftend. Und er generiert auch mit seiner Sprache Atmosphäre, also nicht nur mit dem Inhalt, sondern, wie er den darstellt, etwa mit abgehackten Sätzen ohne Subjekt, sobald Tempo aufkommt. Ein Höhepunkt ist die gegenseitige Observation diverser Figuren bei der Trauerfeier, wie sie da umeinanderkreisen, ohne zu wissen, wen sie da überhaupt vor sich haben. Und er tappt nicht in die Falle, moderne Mittel ungeschickt einzusetzen: Denise nutzt Smartphone und Social Media, und das sogar handlungsrelevant, doch gerät das nie amateurhaft, aufgesetzt oder unglaubwürdig. Man kann davon ausgehen, dass diese Art des Umgangs mit dem Internet auch bei einer Lektüre in der Zukunft nicht veraltet wirken wird.

So startet dieser Todesfall vielmehr als Psychogramm und steigert sich in einen Thriller hinein, dass man aus dem – nun – Fluss nicht mehr herauskommen mag. Dabei gestattet Crueger seinen Figuren zwar – wie bei Thrillern dieser Tage üblich – ein Privatleben, macht es aber gottlob nicht zum Schwerpunkt der Geschichte, sondern handelt es zweckdienlich ab, ohne damit vom Fall abzulenken. Was es etwa genau mit der brutalen Vergangenheit des Privatdetektivs auf sich hat, wird angerissen, aber offen gelassen. Andere Aspekte hingegen fließen einfach so nebenbei ein, etwa wie eine Freundin von Denise im Gespräch fortwährend ihren minderjährigen Sohn ermahnen muss: nicht dominant, aber als lebendiger Teil des Personals.

Am Schluss des Buches wartet Crueger dann noch mit einem herzerwärmenden Happy-ending-fact auf, und kurz vor Schluss enthüllt er, dass Herz-Lungen-Wiederbelebung nicht nur zu den Takten von „Staying Alive“ performt werden kann, sondern dabei durchaus auch Stromgitarren zum Einsatz kommen dürfen. Was mir persönlich auch sehr gut gefallen hat, ist, dass Crueger in beeindruckender und verstörender Weise Zusammenhänge zwischen in der Kindheit erlebter religiöser Verblendung und im Erwachsenenalter ausgelebter Perversion beschreibt und auch die voyeuristischen Mechanismen, wie sie in sozialen Medien immerzu auftreten, sehr vortrefflich entlarvt.

Und zuletzt spielt die Heimatstadt des Autoren eine wichtige Rolle. Damit wird „Der Flussmann“ indes kein Regionalkrimi zum Wegwerfen, vielmehr muss der Roman ja irgendwo spielen, und warum nicht dort, wo der Autor die Gegebenheiten kennt. Wer dieses Glück ebenfalls hat, findet sich bestens in Braunschweig zurecht, wer nicht, bekommt es anschaulich beschrieben, letztlich ist es eben auch nur ein Handlungsort.

Ist „Der Flussmann“ Cruegers bester Roman? Da er wohl hoffentlich noch viele weitere schreiben wird, lässt sich das momentan noch nicht abschließend beurteilen.