Devin Townsend – The Retinal Circus – InsideOut/Universal 2013

Von Matthias Bosenick (04.10.2013)

Whoa, gigantisch! Vom ersten Ton an bläst einen dieser Konzertmitschnitt in den Sitz. So also kann Heavy Metal klingen, so vielfältig und gutgelaunt wie bei Devin Townsend. Der feierte 2012 sein 20-jähriges Bühnengebaren in London mit einer Best-Of-Setlist und einer zirkusreifen Artistikshow. Das Ganze fügt der Maestro in eine Story ein, die zweieinhalb Stunden dauert und nicht für eine Sekunde langweilt. Das ist größtmögliches Kino.

Seinen ersten wahrnehmbaren Auftritt hatte Devin 1993 als Sänger auf dem Album „Sex And Religion“ seines Gitarrenlehrers Steve Vai. Erst 1995 veröffentlichte er das erste Album mit seiner Band Strapping Young Lad, „Heavy As A Really Heavy Thing“, und 1997 das begnadete erste Solo-Album „Ocean Machine: Biomech“. SYL sind mittlerweile Geschichte, stattdessen performt der jüngstens von seiner manischen Depression Genesene heute unter dem Banner Devin Townsend Project.

Den ersten Auftritt bei „The Retinal Circus“ hat wiederum Steve Vai, von einer Videoleinwand herunter. Vai gibt den Kommentator und Erzähler, der den Traum der Bühnenfigur Harold erläutert und so die dargebotenen Songs in einen Rahmen bettet, und zitiert dabei auch an einer Stelle den Titel „Sex And Religion“. Die Geschichten – und damit die Songs – handeln von allem, was das Leben so ausmacht: Menschwerdung, Krieg, Religion, Drogenabhängigkeit, Liebe, Fortpflanzung, Familie, Tod, Erlösung. Und Aliens.

Den Best-Of-Reigen eröffnet „Effervescent/True North“ vom jüngsten Album „Epicloud“, das sehr gospellastig war, und entsprechend singt hier – ein Gospelchor. Metal mit Gospel! Die Chorsänger mutieren hernach zu Schweinen, Affen, Soldaten, Artisten und und und. In der ersten Hälfte des Gigs wuselt immerzu irgendwer um die Musiker herum, in der zweiten Hälfte reduziert der Meister die Opulenz ein wenig. Musikalisch ist fast alles vertreten, was Devin so macht, bis auf seine Ambient-Sachen: Es gibt den jüngeren glatten Metal-Pop, den vertrackten progressiven Metal der Nullerjahre, das Brett von Strapping Young Lad und die empfindsame Akustikgitarrenballade. Neben der jüngsten Project-Besetzung aus Dave Young, Brian Waddell und Ryan van Poederooyen ergänzen Anneke van Giersbergen, Jed Simon und einmal – bei „Planet Smasher“ – Dom Lawson die Reihe der Musiker. Das Publikum feiert insbesondere den alten SYL-Kollegen Jed Simon, aber eigentlicher Star ist Anneke van Giersbergen, die nie zuvor (The Gathering) und auch nicht aktuell (solo) jemals so bedeutsdam sang wie stets und auch hier an Devins Seite. Sie veredelt auch Stücke, die in den Ur-Versionen ohne ihren Gesang aufgenommen waren, fehlt aber leider bei der Akustik-Version von „Hyperdrive“.

Kuriose Feststellung: Mit Chor, Frauenstimme und Devins Dauergrinsen erweckt der Gig stark den Anschein einer Schlagerparade. Dabei ist die Musik überwiegend so bretthart, wie es nur geht. Es macht Spaß, den Leuten dabei zuzusehen, dass Härte nicht unbedingt mit der handelsüblichen Show und Maskerade verbunden sein muss. Man kann auch gutgelaunt zu komplexem Metal die Matte schütteln, und das tut das Publikum auch. Wenn es nicht mit Ziltoid-Handpuppen spielt. Auf jeden Fall feiern alle zusammen eine riesige Party, auf wie vor der Bühne.

Einzig von der Traumshow sieht man vergleichsweise wenig, der Fokus liegt sehr auf der Band. Aber man bekommt genug Eindruck davon, was sich Devin mal wieder hat einfallen lassen, inklusive Riesen-Geschlechtsteilen und Baby-Ziltoid. Irre, absolut. Kann er das jemals toppen? Möglicherweise, denn für nächstes Jahr plant Devin ein Dark-Country-Album. Kann was werden.

Der Sammler ist bei „The Retinal Circus“ stark gefordert. Er kann wählen, ob er nur die Doppel-CD (sinnlos), nur die Doppel-DVD oder nur die BluRay haben will. Oder ob er das Paket mit allen fünf Disks haben möchte. Oder ob er die LP-große Box mit allen fünf Disks, einem Buch, einen Pop-Up-Bühnenbild, einem Druck und diversen weiteren Beigaben neben die „By A Thread“- und die „Contain Us“-Boxen stellen will.

Die Tracklists von CD und DVD (auf der BluRay geht das Konzert durch):

1. Effervescent!/True North (von Epicloud)
2. Lucky Animals (Epicloud)
3. Planet Of The Apes (Deconstruction)
4. Truth (Infinity)
5. War (Infinity)
6. Soul Driven (Infinity)
7. Planet Smasher (Ziltoid The Omniscient)
8. Babysong (Synchestra)
9. Vampolka (Synchestra)
10. Vampira (Synchestra)
11. Addicted! (Addicted)
12. Color Your World (Ziltoid The Omniscient)
13. The Greys (Ziltoid The Omniscient)

1. Hyperdrive (Ziltoid The Omniscient, Addicted)
2. Ih-Ah! (Addicted)
3. Where We Belong (Epicloud)
4. Detox (City)
5. Bend It Like Bender! (Addicted)
6. Life (Ocean Machine: Biomech)
7. Kingdom (Physicist)
8. Juular (Deconstruction)
9. Love? (Alien)
10. Colonial Boy (Infinity)
11. Grace (Epicloud)
12. Little Pig (Epiclouder)

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