Boris – Heavy Rocks – Relapse Records 2022

Von Guido Dörheide (19.08.2022)

Handelt es sich bei „Heavy Rocks (2022)“ wieder um so eine Rewiederneuveröffentlichung eines alten Albums? Gar bereits um die zweite? Immerhin haben Boris aus Tokio schon 2002 und 2011 ein Album mit diesem Titel veröffentlicht. Aber weit gefehlt: Das legendäre, unvergleichliche, gutaussehende und über alle Maßen wundervolle Trio scheint sich auf die Fahne mit der aufgehenden Sonne geschrieben zu haben, ungefähr alle zehn Jahre mit einer Fortsetzung des 2002er-Albums „Heavy Rocks“ um die Ecke zu kommen: So erschien 2011 das Album „Heavy Rocks“ und nunmehr, 20 Jahre nach „Heavy Rocks“, also „Heavy Rocks“.

Das ist ein wenig so, als hätten The Cure in den Jahren 1982, 1989 und 2000 jeweils ein Album mit dem Titel „Pornography“ herausgebracht. Wären die dem Beispiel gefolgt, das Boris ihnen nur sehr wenig später geliefert haben, hätten sie sich keine komplizierten Album-Titel wie „Disintegration“ oder „Bloodflowers“ ausdenken müssen. Andererseits weiß man bei den unberechenbaren und immens großartigen Boris auch nicht, ob „Heavy Rocks“ tatsächlich als Trilogie angelegt ist oder ob sagen wir mal 2031 ein Album mit dem Titel sagen wir mal „Heavy Rocks“ erscheinen wird. Aber das ist Spekulation und das gehört nicht hierher. Und in der Zwischenzeit bringen Boris wahrscheinlich auch wieder jede Menge andere Alben mit anderen Titeln heraus. Seit „Heavy Rocks (2002)“ zählt meine persönliche – höchstwahrscheinlich nicht vollständige – Boris-Sammlung allein 30 Veröffentlichungen, die nicht „Heavy Rocks“ im Titel tragen. Und vor der ersten „Heavy Rocks“ haben Boris schon – minnichstens – die Jahrtausendalben „Absolutego“ und „Amplifier Worship“ auf den Weg gebracht. Da sich die/der Hörende allein schon aufgrund der reinen Masse an Veröffentlichungen schnell und gründlich im Boris-Veröffentlichungs-Tsunami verirren mag, schreibe ich eingangs mal ein paar Gedanken zu den bisherigen „Heavy Rocks“ nieder:

Das erste Album dieses Titels aus dem Jahr 2002 beginnt nach allen Regeln der Doomkirche und nimmt dann Fahrt auf. Noise, Stoner, irgendwo auch Punk sowie Psychedelic, und der Gesang liegt irgendwo grob zwischen Mastodon und den Melvins (nach deren gleichnamigem ersten Stück auf dem dritten Album – Bullhead – sich Boris benannt haben).

Die zweite Inkarnation von „Heavy Rocks“ aus dem Jahr 2011 setzt irgendwo hier an und fügt der ganzen Kakofonie noch 1 Msp. Postpunk/-rock mit irgendwie trancig-nöligem Gesang sowie alternativen Garagenrock hinzu.

Und jetzt also „Heavy Rocks“. Hm, nun, ääh, der Titel kommt mir bekannt vor. Also hömmama rein: Ich hatte ja bereits in diesem Jahr über „W“ von Boris geschrieben. Ein eher komplentatives [ich hoffe sehr, dass das ein Zitat ist (Red.)] Werk, das in Teilen – und das sehr sehr schön – vom Gesang der Gitarristin Wata lebte – der leider auf „Heavy Rocks“ fast komplett fehlt – dafür entlockt Wata ihrer schwarzen Les Paul Töne, die nicht nur ihresgleichen suchen, nein – die ihresgleichen fürchten wie sammama Ingles weiland Toranaga-san.

„Heavy Rocks“ im Jahre 2022 rockt wahrlich wahrlich heavy, lässt auch nie locker, fängt garagenmäßig vom Sound an und wird dann immer dicker produziert, durchgehend auf japanisch gesungen und lässt bei den ersten Songs nicht vermuten, dass diese Band mal im Drone Doom zu verorten war. „She Is Burning“ und „Cramper“ sowie auch „My Name Is Blank“ schrammeln ge-na-den-los los, sowohl die Gitarren als auch das Schlagzeug gönnen sich gegenseitig nix und Atsuo schreit auf japanisch irgendwelche Dinge, die die/dem/der/das Angeschriene in keinem guten Licht dastehen lassen. Derweil hämmert er auf seine Drums ein, dass es eine wahre Freude ist, und Wata und Takeshi spielen sich auf den Gitarren (Wata auf der besagten schwarzen Les Paul und Takeshi auf einem der Teile seiner dämonischen doppelhalsigen, vom „Akuma No Uta“-Cover – jahaa, das, auf dem Takeshi dasitzt wie weiland Nick Drake auf „Bryter Later“, nur eben nur mit einem Hals mehr an der Gitarre – bekannten Halb-E-Bass-halb-E-Gitarre) die Bälle zu. Kein Vergleich zu Boris‘ letztem, erst in diesem Jahr erschienenen, erst in diesem Jahr in dieser Stelle rezensiertem Album „W“, das ruhige Stellen nicht nur zuließ, sondern geradezu ermunterte. Dagegen wirkt „Heavy Rocks“, als ob das Trio aus Tokio zu sich ins Wohnzimmer gegangen wäre, die Alben ihrer Plattensammlung aus den Regalen gerissen hätte und sie singend durch die Gegend gepfeffert hätte, während andere Leute dazu Gitarre gespielt und getrommelt hätten.

Bis: Jahaaa – bis „Nosferatu“: Da hört man einen engelsgleichen Gesang, der nur von Wata stammen kann, und die Saiteninstrumente lassen ein wunderwunderschönes Dronedoomgedrone ertönen, das nur von Atsuos Gesang wieder eingefangen werden kann, der wieder einmal mehr versucht, King Buzzo von den Melvins gesanglich zu erreichen und das auch schafft. Anschließend verzückt wieder einmal mehr Wata die Zuhörenden, während sie gleichzeitig der Gitarre ein unmenschliches Quietschen entlockt, dann wieder Atsuo und immer so fort. „Nosferatu“ ist eventuell DER Song des Albums. Der Song, für den Earth gestorben wären… The Earth died screaming… oder wieauchimmer.

Gleich danach lassen Boris vergessen, dass sie auch nur annähernd etwas mit Drone Doom oder auch nur mit Doom zu tun hätten: „Ruins“ schrammelt los wie nichts Gutes – mir fällt tatsächlich nichts ein, was in ähnlicher Weise losschrammelt wie nichts Gutes – und der Gesang erinnert mich wieder einmal mehr an Mastodon auf – ja, auf was? Auf Mastodon, vermute ich. Der nächste Song „Ghostly Imagination“ wird von einem wirklich nicht mehr schönen, sondern immens brutalen und dadurch umso schöneren Drumgeballer Atsuos dominiert, tut weh an den Ohren (Watas Gitarre jault, als hätte man sie ohne Frühstück ins Bett geschickt) und besticht dennoch durch eine Melodie, bei der man sich fragt: Wäh?

Das nächste Stück „Chained“ beginnt mit einem Kettengeklimper, bei dem man denkt, „ja nee is klar, ‚Chained‘, Kettengeklimper und so“ – aber nur wenige Takte später hauen einem Boris dermaßen die Füße weg, dass man sich wünscht, diese wären in Ketten, was ist Rhythmusarbeit, was ist Solo? Alles verschwimmt zu einer Orgie an Brutalität, die nur durch das letzte Stück, „(Not) Last Song“ wieder eingefangen werden kann: Hier ist der Name Programm, Klavier, Ruhe und – ja, genau – Atsuos ätzender, teils in gepresster Weise herausgepresster Gesang – dominieren das Stück, das auf einmal abbruchartig abbricht – und dieses Album endlich ein Ende findet! Ja Hammer! Schnell raus, eine rauchen, und „Heavy Rocks“ noch einmal durchlaufen lassen!!!